Arbeiten in Coronazeiten: für mehr Ausgleich sorgen

„Was kann ich für mich tun?“ – unsere Expertin erklärt, warum diese Frage gerade im Homeoffice so wichtig ist.

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Foto: Drazen/iStock

Stress im Arbeitsleben ist nichts Neues, in Zeiten von Corona und Homeoffice jedoch für manche Berufstätige eine echte Herausforderung. Im Interview erklärt Dr. med. Tatjana Reichhart, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Autorin des Buches „Das Prinzip Selbstfürsorge“, warum es wichtig ist, als Arbeitnehmer in sich selbst hineinzuhorchen.

Stresssituationen kennen viele Arbeitnehmer. Welche Faktoren lösen typischerweise Stress im Arbeitsleben aus?

Tatjana Reichhart: Zum einen können äußere Faktoren wie mangelnde Wertschätzung, fehlende Unterstützung, Konflikte im Team und zu viel Arbeit auch unabhängig von Corona für Stress im Arbeitsleben sorgen. Im Gegensatz dazu sind wir viel stressresistenter, wenn wir von Vorgesetzten oder dem Team Aufmerksamkeit bekommen und uns unterstützt fühlen.

Zum anderen kommt Stress am Arbeitsplatz auch oft aus uns selbst heraus. Wenn wir etwas als wichtig erachten und das Gefühl haben, es nicht so gut hinzubekommen wie eigentlich gewünscht, geraten wir in Stress.  

Was dann hilft, ist, die eigene Bewertung zu ändern: Was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn die Mail erst eine Stunde später rausgeschickt wird? Vermutlich sinkt das Stresslevel schon durch eine neue Einordnung der Situation.

Inwiefern verstärkt die Corona-Pandemie Stress im Arbeitsleben?

Tatjana Reichhart: Vielem sind wir aktuell hilflos ausgeliefert. Manche Arbeitnehmer müssen im Homeoffice arbeiten, andere dürfen es nicht und fühlen sich durch den Kontakt zu anderen einem ständigen Risiko ausgesetzt. Während manche Arbeitnehmer neben dem eigenen Homeoffice auch noch das Homeschooling der Kinder betreuen müssen, fehlt anderen zu Hause der reale Kontakt und sie vereinsamen. Es sind aber weniger die Arbeit oder das Homeoffice an sich, die Stress auslösen. Es fehlt einfach der Ausgleich. Die gewohnten Kompensationsmechanismen wie Freunde treffen funktionieren aktuell nicht.

Wie können Arbeitnehmer stattdessen für einen Ausgleich sorgen?

Tatjana Reichhart: Sie sollten eine echte Alternative zur Arbeit schaffen. Wäsche waschen statt Mails checken ist keine gute Idee. Besser ist es, draußen spazieren zu gehen oder drinnen für Bewegung zu sorgen – egal, ob mit Hula-Hoop, Tanzen oder Yoga. Wir können am besten abschalten, indem wir uns mit einem ganz anderen Inhalt beschäftigen als den Projekten auf der Arbeit. Deshalb ist es auch gut, etwas zu machen, das man vorher noch nie gemacht hat. Das kann zum Beispiel bedeuten, mit dem Malen anzufangen oder ein Musikinstrument zu lernen. Es geht darum, der Zeit eine Qualität zu geben und keine Eintönigkeit entstehen zu lassen.

Das Gehirn benötigt neben Schlaf und Erholung neue Reize und neuen Input, um wieder kreativ und leistungsfähig zu werden.

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Unsere Expertin

Dr. med. Tatjana Reichhart

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie

Wie klappt der Ausgleich, wenn das Zuhause gleichzeitig der Arbeitsplatz ist? 

Tatjana Reichhart: Es ist normal, dass die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben im Homeoffice verschwimmt, und das ist an sich auch kein Risiko. Wichtig ist aber, dass man sich zu Hause bewusst Freiräume schafft und nicht ständig Dinge per Multitasking parallel erledigt, sondern die Aufmerksamkeit nacheinander nur auf eine Sache legt. Wenn man fernsieht, dann sollte man nur fernsehen und nicht parallel noch Arbeitsmails checken. Wenn wir uns mit dem Partner unterhalten, sollten wir uns auf das Gespräch konzentrieren und nicht parallel über ein Arbeitsprojekt grübeln – das überfordert das Gehirn langfristig.

Es kommt auch nicht so sehr darauf an, pünktlich Feierabend zu machen. Einigen hilft es, die Arbeitszeit aufzuteilen. Wenn einem danach ist, gönnt man sich nachmittags eine Stunde in der Sonne, um abzuschalten. Nach dem gemeinsamen Abendessen mit der Familie kann die Arbeitszeit dann mit neuer Energie nachgeholt werden. Wer gern pünktlich Feierabend machen möchte, sollte sich durch eine verbindliche Verabredung zum Spazierengehen motivieren.

Rituale können ebenfalls helfen, Arbeit und Privates zu trennen. Indem man den Laptop und die Unterlagen am Abend in eine Kiste verstaut, imitiert man den Heimweg vom Büro, den man sonst hatte. Selbst wenn nur eine Mappe auf dem Tisch liegt, ruft das Gehirn unbewusst die To-do-Liste von der Arbeit in den Kopf. Besser ist es, sich beispielsweise ein Foto vom letzten Urlaub auf den Tisch zu stellen und sich so unbewusst an eine Auszeit zu erinnern. Wer das Handy privat wie beruflich nutzt, sollte Pushnachrichten unbedingt ausschalten, um Reize zu reduzieren.  

Welche Gefahren birgt andauernder Stress und welche körperlichen Warnzeichen gehen damit einher?

Tatjana Reichhart: Wenn das Stresslevel durch einen hohen Adrenalin- und Cortisolspiegel dauerhaft hoch ist und wir selten eine Regenerationsphase haben, in der sich die Hormone wieder absenken können, ist der Körper in einem ständigen Kampf- und Fluchtmodus: Die Muskeln sind angespannt, der Blutdruck ist hoch, der Kopf rattert die ganze Zeit.

Auf körperlicher Ebene zeigen sich dann Symptome wie Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Verspannungen, Schlafstörungen, Hörgeräusche und innere Unruhe. Der Körper zeigt dadurch das Bedürfnis an, Stresshormone abzubauen, etwa durch Bewegung oder Entspannung. Darauf sollten wir entsprechend eingehen.

Wenn die Warnzeichen ignoriert werden, können stressassoziierte körperliche Erkrankungen chronisch werden. Auf psychischer Ebene können nachhaltige Schlafstörungen, Angststörungen und Depressionen auftreten.

Was Studien auch zeigen: Corona ist ein Risikofaktor für Suchterkrankungen. Manche Menschen versuchen, durch Alkoholkonsum ihren Stress zu kompensieren, und geraten dadurch in eine Abhängigkeit.

Was sollten Betroffene tun, wenn sie sich dauerhaft gestresst fühlen?

Tatjana Reichhart: Das Wichtigste ist, die Warnzeichen zu bemerken. Eine gute Übung ist zum Beispiel, jeden Abend beim Zähneputzen in sich zu gehen und sich zu fragen: Wie geht es mir gerade – innerlich und körperlich? Habe ich von meinem Partner, Kind oder von Arbeitskollegen Feedback über Veränderungen in meinem Verhalten bekommen? Halten die Auffälligkeiten über zwei, drei Wochen an, sollten Betroffene dringend handeln. Wenn mehr Schlaf, mehr Bewegung und mehr Entspannung nicht ausreichen, ist der Hausarzt oder der Betriebsarzt der erste Ansprechpartner. Über die Krankenkasse können Kurse für Achtsamkeit und Stressbewältigung gebucht werden. Eventuell ist auch ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten sinnvoll.

Letztlich kommt es immer darauf an, sich zu fragen: Was kann ich ganz konkret für mich tun? Wer nicht auf seine Bedürfnisse achtet, ist anfälliger für negativen, chronischen Stress. Deshalb ist Ausgleich sehr wichtig. Für die Arbeit hilft es, öfter Nein zu sagen, häufiger Pausen zu machen und den Perfektionismus auch mal beiseitezulegen.

Tipps für Arbeitgeber und Führungskräfte

So lässt sich Stress und Einsamkeit bei Arbeitnehmern im Homeoffice verringern:

  • Regelmäßig Feedback geben: Ob Lob oder Kritik – eine Rückmeldung in jeglicher Form zeugt von Interesse und steigert die Motivation der Mitarbeiter.
  • Sozialen Zusammenhalt stärken: Weil die gewohnte Nähe zu den Kollegen fehlt, sollte wenigstens einmal in der Woche eine Teamkonferenz mit eingeschalteten Kameras stattfinden.
  • Erst die Erfolge benennen: Bei offiziellen Meetings hilft es, zuerst über positive Entwicklungen und Erfolge zu sprechen, um die Stimmung zu heben.
  • Kaffeepausen machen: Statt nur über die Arbeit zu reden, sind auch Kaffeepausen mit Smalltalk und virtuelle Abendveranstaltungen wertvoll. Es ist wichtig, aufrichtig nachzuhören, wie es den Kollegen und Mitarbeitern aktuell geht und was außer Arbeit sonst gerade bei ihnen los ist.

Gesundheitsangebote und Kurse

Die SBK unterstützt Sie dabei, gesund zu bleiben – zum Beispiel mit zahlreichen Präventionsangeboten.

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