Auch Work-Life-Blending braucht Grenzen

So gelingt die „Verwischung“ von Arbeit und Privatem – Dr. Tatjana Reichhart erklärt.

Morgens beim Frühstück schon die ersten E-Mails beantworten, dann schnell das Kind in die Schule bringen, ein Meeting mit dem Kunden und dann der Yogakurs: Wenn Beruf und Freizeit so nahtlos ineinander übergehen, dann spricht man von Work-Life-Blending. Die Hinwendung vom klassischen Nine-to-five zum neuen Arbeitsmodell bietet Chancen, aber auch Herausforderungen. Dr. med. Tatjana Reichhart beantwortet grundlegende Fragen. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Gründerin der Kitchen2Soul-Akademie in München und Autorin der Bücher „Selbstfürsorge“ und „Selbstbestimmt“, erläutert, warum Grenzen so wichtig sind und wie man lernt, sie zu kommunizieren.

Was bedeutet Work-Life-Blending?

Im Grunde bedeutet Work-Life-Blending, dass die Grenzen zwischen Arbeit und der privaten Zeit verschmelzen. Flexible Arbeitszeiten, die es erlauben, auch Termine wie einen Friseurbesuch wahrzunehmen, begünstigen diesen New-Work-Trend. Dies gilt insbesondere für das Homeoffice. Anders als im Büro kann man in den eigenen vier Wänden zwischen E-Mail-Beantwortung und Kunden-Telefonat zum Beispiel die Wäsche waschen.

Worin liegen die Vorteile von Work-Life-Blending?

Einer der größten Vorteile ist sicher, dass man im Einklang mit dem eigenen Biorhythmus arbeiten kann. Wenn ich weiß, ich kann mich ab 21 Uhr super konzentrieren, dann fange ich erst später an zu arbeiten. Außerdem reduziert sich gerade durch Homeoffice das Pendeln. Das spart Zeit. Durch die Digitalisierung der Arbeitswelt ist mobiles Arbeiten heutzutage sehr einfach. Ich kann an den unterschiedlichsten Orten arbeiten, heute zu Hause, morgen im Café und übermorgen im Büro. Kurzum: Man hat einfach sehr viele Freiheiten.

Welche Nachteile hat Work-Life-Blending?

Grenzenziehen ist für manche Leute eine große Herausforderung. Einige Menschen können das gut, andere haben eher Schwierigkeiten damit. Man muss seine Freizeit auch verteidigen können. Wenn Arbeitszeiten flexibel sind, kann es immer dazu kommen, dass Grenzen verschwimmen. Es werden Nachrichten beim Essen mit der Familie beantwortet, Aufgaben erledigt, während der Fernseher läuft, und beim Spieleabend bleibt das Arbeitshandy an – falls sich noch jemand meldet. So kann jede Zeit potenziell zur Arbeitszeit werden. Je nach Typ kann der Rückzug in das Homeoffice auch zu einem sozialen Rückzug werden. Wer sich immer stärker verkriecht, verlernt es, sich mit den ganzen sozialen Stressoren – andere Menschen, Konflikte im Büroalltag – auseinanderzusetzen. Vereinsamung kann die Folge sein. Was dagegen hilft? Sich in kleinen Schritten wieder vortasten: aktiv den Kontakt zu anderen Menschen suchen.

Für wen funktioniert Work-Life-Blending?

Man sollte schon in der passenden Branche sein. Eine Polizistin wird ihre Schicht kaum unterbrechen können, um zwischendrin einen Yogakurs wahrzunehmen. Gleiches gilt für den Bankangestellten. Ansonsten hängt viel von den einzelnen Menschen ab. Damit Work-Life-Blending funktioniert, ist Selbstverantwortung sehr wichtig. Zum einen heißt das, auch im Homeoffice strukturiert und konzentriert zu arbeiten. Und zum anderen: Grenzen kommunizieren. Auch Vorgesetzte können keine Gedanken lesen. Wer überlastet ist, steht in der Verantwortung, das mitzuteilen.

Kann man Work-Life-Blending lernen?

Das kann man, aber dafür muss man sich erst einmal selbst kennenlernen. Viele haben ihre eigenen Grenzen nie klar definiert. Was man hier konkret machen kann: sich einfach dreimal am Tag fragen: Wie geht es mir eigentlich, sowohl körperlich als auch psychisch? Was brauche ich? Und wie können die eigenen Bedürfnisse mit den Erwartungen der Kollegschaft oder Auftraggebenden in Einklang gebracht werden?

Wie lernt man, seine eigenen Grenzen klar zu kommunizieren?

Dafür kann es nötig sein, manchmal in den Konflikt zu gehen. Wenn ich ein überhöhtes Harmoniebedürfnis habe, werde ich immer zu kurz kommen. Die gute Nachricht: Konflikte kann man lernen. Es empfiehlt sich, klein anzufangen. Dem Vorgesetzten kleine Grenzen aufzuzeigen. Ein Beispiel: Am Dienstag und Donnerstag ist man nach 18 Uhr nicht mehr erreichbar. Was soll schlimmstenfalls passieren? Man muss für sich selbst einstehen und sich seinen Ängsten ein Stück weit stellen, um dadurch mehr Freiheiten für sich zu generieren.

Kann es im Work-Life-Blending überhaupt noch so etwas wie eine arbeitsfreie Zeit geben?

Wichtig zu wissen ist in diesem Zusammenhang, dass wir uns immer nur auf eine Sache konzentrieren können. Unser Gehirn ist evolutionsbiologisch bedingt wahnsinnig leicht ablenkbar. Menschen sind sehr neugierig. Wir springen auf jeden Reiz an, weil wir immer schauen müssen, ob eine Gefahr lauert. Dieses Phänomen ist auch als Monkey Mind, also Affenhirn, bekannt. Man sollte sich also ganz bewusst immer nur auf eins konzentrieren – Freizeit oder Arbeit. Wer beides versucht, wird keinem gerecht. Ständige Erreichbarkeit sorgt eher für eine schlechtere als für eine bessere Leistung. Und deshalb sollte es ganz klar eine arbeitsfreie Zeit geben – auch dem Beruf zuliebe.

Wie kann das Arbeitsmodell am besten umgesetzt werden?

Klare Regeln aufstellen: Diese Vermischung von Arbeitszeit und Freizeit darf nicht automatisch zu einer Entgrenzung führen. Dies sollte auch transparent kommuniziert werden – gegenüber den Kolleginnen und Kollegen als auch gegenüber der Familie. Nur weil ich vom Schreibtisch aufstehe, um mir ein Glas Wasser zu holen, bin ich nicht automatisch in der Freizeit. Wichtig ist zudem, vorab zu klären, was die Vorgesetzten genau erwarten. Gibt es Kernarbeitszeiten? In welchem Zeitraum muss man erreichbar sein? Klarheit und Transparenz sind die Basis. Kommunizieren und auch mal Grenzen setzen: So funktioniert es mit dem Work-Life-Blending.

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