Bedürfnisorientierte Erziehung – was heißt das?

Ein Interview mit Autorin Nora Imlau

Sich fürsorglich um sein Kind kümmern – doch dabei auch an sich denken. Viele Eltern versuchen diesen Spagat zu meistern. Gerade Frauen möchten es gerne allen in der Familie recht machen und setzen sich selbst unter Druck. Das Thema findet unter dem Begriff Mental Load immer mehr Aufmerksamkeit. Wie es auch anders gehen kann, zeigt die bedürfnisorientierte Erziehung. Hier werden die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gleichermaßen berücksichtigt. Wie das in der Praxis aussehen kann und warum Grenzen für Kinder so wichtig sind, erzählt uns Bestsellerautorin Nora Imlau im Interview.

Redaktion: Was heißt eigentlich bedürfnisorientierte Erziehung?

Nora Imlau: Bedürfnisorientierte Erziehung basiert auf der Annahme, dass Kinder von Geburt an Bedürfnisse haben – genau wie Erwachsene auch. Und natürlich versuchen Kinder, sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Das spiegelt sich in ihrem gesamten Verhalten wider. Die Aufgabe der Eltern ist es, diese Bedürfnisse zu erkennen und nach bestem Gewissen zu erfüllen. Dabei sollten wir natürlich auch unsere eigenen Bedürfnisse in die Waagschale werfen.

R Wie kann ich im Alltag die Bedürfnisse meiner Kinder erkennen?

NI Eine ganz typische Situation wäre zum Beispiel: Sie müssen morgens los zur Kita, das Kind soll sich schon mal alleine in seinem Zimmer anziehen. Nach fünf Minuten kommen Sie rein und das Kind hat sich nicht angezogen. Stattdessen sitzt es auf dem Boden und spielt. Anstatt jetzt Druck zu machen oder Drohungen auszusprechen, stellt man sich bei der bedürfnisorientierten Erziehung die Frage nach dem Warum: Wieso hat das Kind sich nicht angezogen?

Anstatt jetzt Druck zu machen oder Drohungen auszusprechen, stellt man sich bei der bedürfnisorientierten Erziehung die Frage nach dem Warum: Wieso hat das Kind sich nicht angezogen?

Und welches Bedürfnis könnte dahinterstecken?

NI Vielleicht hat das Kind einfach den Wunsch gehabt, noch einen Moment zu spielen. Oder es möchte beim Anziehen mehr Begleitung haben und es reicht es schon, wenn ich mich daneben setze. Vielleicht möchte das Kind auch, dass ich es auf den Schoß nehme, weil es gerade ein Bedürfnis nach Nähe und Fürsorge hat? Die Idee ist, gemeinsam einen Weg zu finden, um das Ziel zu erreichen. Das Kind soll natürlich am Ende angezogen sein – aber ohne in einen Machtkampf einzusteigen.

R Heißt bedürfnisorientiert, dass ich dem Kind jeden Wunsch von den Lippen ablese?

NI Nein, natürlich nicht. Wenn man keine Grenzen einzieht und sagt: „Jeder Wunsch des Kindes ist mir Befehl”, ist das nicht gut für die kindliche Entwicklung. Und oft auch nicht für die Erwachsenen. Denn wenn ich immer alles tue, was mein Kind möchte, vernachlässige ich höchstwahrscheinlich meine eigenen Bedürfnisse. Und das ist nicht gut im Sinne einer gesunden Familiendynamik. Kinder brauchen die Rückmeldung: Meine Eltern kümmern sich um mich und achten auf meine Bedürfnisse, aber sie haben auch Grenzen. Und da müssen Kinder natürlich eine gewisse Frustrationstoleranz lernen.

R Wie schaffe ich es, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu berücksichtigen?

NI Es geht weniger um die perfekte Harmonie, sondern darum, dass alle Bedürfnisse gesehen werden und ihren Raum bekommen. Es ist absolut unmöglich im Familienleben, alle Bedürfnisse immer und prompt zu erfüllen. Aber ich kann allen Familienmitgliedern den Raum für ihre Bedürfnisse geben und sagen: „In dieser Familie ist jedes Bedürfnis gleich wichtig.” Die Erwachsenen haben Bedürfnisse und Grenzen – und die Kinder genauso. Kinder können umso besser verstehen, dass Eltern Grenzen haben, wenn ihre eigenen Grenzen auch respektiert werden.

Kinder können umso besser verstehen, dass Eltern Grenzen haben, wenn ihre eigenen Grenzen auch respektiert werden.

R Wie setze ich das in der Praxis um?

NI Ich habe selbst vier Kinder zwischen 4 und 16 Jahren. Es kann durchaus sein, dass ich an einem Nachmittag vom Einkaufen nach Hause komme und von allen Kindern gleichzeitig bestürmt werde. Jedes Kind möchte irgendwas anderes. Das eine hat Hunger, das andere braucht Hilfe bei den Hausaufgaben und so weiter. Dann finde ich es wichtig, die Bedürfnisse einmal auszusprechen und zu zeigen, dass ich sie zur Kenntnis genommen habe. Und dabei benenne ich auch mein eigenes Bedürfnis: Ich komme gerade vom Einkaufen, ich brauche jetzt eine kleine Pause und danach jemanden, der mir hilft die Sachen reinzutragen. Und dann kümmere ich mich um eure Anliegen.

Es ist also wichtig, überhaupt erstmal Bedürfnisse zu erkennen?

NI Es gibt den Satz: „Gut gesehen ist halb erfüllt.” Wenn die Kinder merken, dass ihr Bedürfnis zur Kenntnis genommen wurde, dann muss es gar nicht sofort erfüllt werden. Entscheidend ist, dass das Kind nicht das Gefühl bekommt, dass es ignoriert wird. Denn wenn wir einen Menschen mit seinen Bedürfnissen nicht sehen, dann fühlt er sich nicht mehr wertgeschätzt.

Gut gesehen ist halb erfüllt.

Wie setze ich im Alltag Grenzen?

NI Beim Grenzenziehen ist es wichtig, bei sich zu bleiben und nicht die Kinder zu formen. Wenn ich für meine Kinder Pizza gemacht habe und eins lieber Nudeln möchte, kann ich abwägen: Habe ich gerade die Ressourcen, um Nudeln zu kochen? Vermutlich eher nicht, denn ich möchte selbst gerne Pizza essen. Meinem Kind kann ich vorschlagen sich alternativ Müsli zu machen oder ein Brot zu schmieren. Was ich nicht sagen werde, ist: „Du isst jetzt diese Pizza und wenn du sie nicht isst, gibt es keinen Nachtisch.” Denn das wäre Druck und Zwang. Stattdessen gehe ich mit dem Kind in Verbindung und ich bin auch nicht wütend darüber, dass es keine Lust auf Pizza hat. Denn das ist sein gutes Recht. Es muss nichts wollen. Und ich muss gleichzeitig nicht jeden Wunsch erfüllen.

Unsere Expertin

Nora Imlau

Die erfahrene Journalistin befasst sich seit Jahren mit der modernen Kindererziehung und hat bereits mehrere erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht. Als Expertin für bindungsorientierte Elternschaft tritt Nora Imlau als Speakerin auf Fachkongressen und anderen Veranstaltungen auf. Auch über Social Media teilt die Mutter von vier Kindern ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen Eltern.

Es geht also immer darum, Kompromisse zu finden?

NI Nicht immer. Wenn es um die körperliche und seelische Gesundheit unserer Kinder geht, haben wir Eltern einen Schutzauftrag. Hier ist es legitim, sich über die Bedürfnisse des Kindes hinwegzusetzen. Das heißt, wir müssen unsere Kinder vielleicht mal im Autositz anschnallen, auch wenn sie es nicht möchten. Oder wir verbieten ihnen mit dem Laufrad zu fahren, weil sie noch nicht verlässlich anhalten. Der Unterschied zur autoritären Erziehung ist, dass ich die Grenzen nicht mit Druck und Strafen durchsetze. Zum Beispiel: „Wenn du nicht bremst, dann gibt es Ärger!“ Sondern ich handle proaktiv und lasse mein Kind gar nicht erst mit dem Laufrad fahren.

Der Unterschied zur autoritären Erziehung ist, dass ich die Grenzen nicht mit Druck und Strafen durchsetze.

Warum sind Grenzen für die kindliche Entwicklung wichtig?

NI Kinder lernen durch gut gesetzte und begleitete Grenzen, mit Frust umzugehen und dass sie nicht immer alles haben können, was sie wollen. Das ist für später wichtig, denn kein Mensch kann immer haben, was er möchte. Und gleichzeitig lernen sie, dass Wut oder Trauer legitime Gefühle sind, die sie nicht herunterschlucken müssen. Das Problem für Kinder sind nicht die Grenzen, die wir ziehen. Das Problem entsteht an dem Punkt, wo Kinder eine emotionale Reaktion auf unsere Grenzen haben und das Gefühl bekommen, dass sie das nicht dürfen. Doch das dürfen sie und ich bestrafe sie auch nicht dafür. Und ich scheue auch nicht davor zurück, diese unbequeme Rolle einzunehmen, und sage: „Ich verstehe dich, du findest das jetzt doof, ich muss es dir trotzdem verbieten, denn es ist zu gefährlich.“ So kommuniziere ich auf Augenhöhe mit meinem Kind und nehme es mit seinen Gefühlen ernst.

Vielen Dank für Ihre Zeit und das spannende Gespräch.

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