Gendermedizin

Von einer geschlechtersensiblen Medizin können alle profitieren

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Schon kleine Kinder wissen, dass Männer und Frauen unterschiedlich sind. Daher ist es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Medizin diese Tatsache lange wenig beachtet hat. Das will die Gendermedizin ändern – und so eine bessere Gesundheitsversorgung für alle erreichen. Wir haben mit Dr. med. Ute Seeland, Gendermedizinerin an der Charité gesprochen.

Was ist Gendermedizin?

Dr. med. Ute Seeland erklärt: „Die Gendermedizin untersucht die Auswirkungen des Geschlechts auf die Gesundheit von Menschen. Dabei spielen sowohl biologische als auch gesellschaftliche Aspekte eine Rolle. Denn beides beeinflusst, wie Krankheiten entstehen, wie sie verlaufen und behandelt werden. Auch Prävention gehört zu unseren Aufgaben, zum Beispiel, indem wir über Geschlechtsunterschiede bei Erkrankungen aufklären.“ Dabei fokussiert sich die Gendermedizin keineswegs nur auf ein Geschlecht. Gendermedizin hat sich zum Ziel gesetzt, allen Menschen – Männern, Frauen und Personen, die sich keinem eindeutigen Gender zuordnen – die optimale medizinische Versorgung zu bieten.

Wie wichtig das ist, zeigt sich am Beispiel Herzinfarkt. Diese Erkrankung betrifft jedes Jahr rund 300 000 Menschen in Deutschland – Frauen und Männer. Doch laut der Deutschen Herzstiftung zeigen Studien, dass Frauen schlechtere Chancen auf eine Genesung haben.

Herzinfarkt: Wieso haben Frauen schlechtere Chancen auf Heilung?

Zum einen gilt der Herzinfarkt immer noch als typisch männlich. Viele Frauen unterschätzen daher ihr Risiko. Außerdem äußert sich ein weiblicher Herzinfarkt oft anders. Statt des bekannten plötzlichen Brustschmerzes, der bis in den linken Arm ausstrahlt, können bei Frauen Übelkeit, Erschöpfung, Oberbauchschmerzen und Kurzatmigkeit im Vordergrund stehen. Hinter diesen Symptomen wird häufig zunächst ein Magen-Darm-Infekt vermutet. Ein weiterer wichtiger Faktor ist psychologischer Natur. Frauen neigen dazu, ihre Beschwerden weniger ernst zu nehmen oder zu verdrängen, so die Herzstiftung. Insbesondere ältere Frauen, die allein leben, möchten niemandem zur Last fallen. Deshalb zögern sie, Hilfe zu rufen. Diese Zurückhaltung hat deutliche Folgen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung hat herausgefunden, dass bei einem Herzinfarkt Männer über 65 Jahren durchschnittlich eine ganze Stunde schneller in die Notaufnahme kommen als gleichaltrige Frauen. Dabei zählt in dieser Situation jede Minute.

Wieso ist Gendermedizin wichtig?

Entdeckt wurden die Unterschiede beim weiblichen Herzinfarkt erstmals von der amerikanischen Ärztin Marianne Legato in den 1980er Jahren. Sie war es auch, die sich für einen neuen, gerechteren Ansatz in der Medizin einsetzte: Künftig sollte vor allem das weibliche Geschlecht stärker berücksichtigt werden. Denn bis zu diesem Zeitpunkt behandelte die Medizin Frauen wie kleine Männer. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Therapieansätze wurden einfach auf sie übertragen. Teilweise ist das bis heute so. Dabei werden Frauen durch Menstruation, Schwangerschaft und Menopause hormonell ganz anders beeinflusst – körperlich und psychisch. Auch bei Stoffwechselvorgängen unterscheiden sich die Geschlechter. Ein weiblicher Körper baut manche Wirkstoffe rascher, andere langsamer ab.

Das hat einen Effekt darauf, wie gut Medikamente wirken. Statistisch nehmen Frauen insgesamt mehr Arzneimittel ein und berichten auch häufiger über Nebenwirkungen. Bei den Dosierungsempfelungen wird jedoch in der Regel nicht nach Geschlecht unterschieden. Dabei wünschen sich das die meisten Deutschen. Laut einer repräsentativen Umfrage erwarten rund 87 Prozent, dass die Packungsbeilage von Medikamenten über eine geschlechterspezifische Anwendung informiert. „Wir brauchen eine Forschung, die alle Geschlechter berücksichtigt – gerade im Arzneimittelbereich. Je besser man Unterschiede in Wirkung und Nebenwirkung kennt und versteht, desto besser kann man die individuelle Behandlung daran anpassen“ betont Expertin Dr. Seeland.

Welche Rolle spielt das soziale Geschlecht?

Rollenbilder haben eine Wirkung auf die Gesundheit. Es gilt zum Beispiel immer noch als Zeichen männlicher Stärke, wenig Gefühle zu zeigen oder Herausforderungen mit sich selbst auszumachen. Frauen wiederum werden als gefühlsbetont und sensibel wahrgenommen. Sie sind oft geübter darin, ihre Emotionen zu erkennen und darüber zu sprechen. Dadurch suchen sie sich auch rascher Hilfe bei seelischen Krisen. „Inzwischen weiß man, dass mentale Gesundheit eine wichtiges Männerthema ist“ bringt Dr. Seeland es auf den Punkt. „Ängste, Essstörungen und Despressionen betreffen sie genauso, zeigen sich nur teilweise anders – und werden dadurch seltener diagnostiziert. Frauen mit Despressionen beispielsweise ziehen sich häufig zurück, sind müde und empfinden weniger Freude. Depressive Männer reagieren dagegen gereizt und impulsiv oder greifen zu Alkohol.“ Je sensibler Fachleute und auch Privatpersonen für diese unterschiedlichen Anzeichen sind, desto rascher und effizienter kann Betroffenen geholfen werden.

Mythos Männergrippe: Gibt es sie überhaupt?

Herbstzeit ist Erkältungszeit. Während Frauen einen leichten Infekt oft gut verkraften, hüten Männer gleich mehrere Tage das Bett. Zumindest behauptet das der Volksmund – und spricht hier ausgenzwinkernd vom typischen Männerschnupfen. Doch, stimmt das? Die Gendermedizin ist dem nachgegangen: Eine aktuelle Studie hat untersucht, ob Männer sensibler auf eine Erkältung reagieren. Hierfür wurden 141 Frauen und Männer mit einem akuten Atemwegsinfekt nach ihrem subjektiven Befinden befragt. Parallel wurden die Symptome auch von ärztlicher Seite – also möglichst objektiv – eingeschätzt. Das Ergebnis: Aus medizinischer Sicht waren beide Geschlechter in etwa gleich stark betroffen. Und bei der Selbsteinschätzung waren es sogar die Probandinnen, die über intensivere Symptome berichteten. Allerdings erholten diese sich anschließend auch rascher wieder. Dafür sind möglicherweise die weiblichen Hormone verantwortlich. Denn Östrogene stärken das Immunsystem. Insgesamt kam das Forschungsteam zu dem Ergebnis: Der Männerschnupfen ist ein Mythos. So hilft die Gendermedizin, Geschlechterklischees zu verändern.

Wie sieht die Zukunft der Gendermedizin aus?

Inzwischen hat auch die Politik erkannt, wie wichtig eine geschlechtersensible Medizin für alle Menschen ist. Die aktuelle Bundesregierung plant, Gendermedizin zum festen Bestandteil des Medizinstudiums zu machen. Außerdem sollten regelmäßige Fortbildungen für medizinische Berufe entwickelt werden, damit ein geschlechtersensibles Verhältnis für die Gesundheit bald selbstverständlich ist. Auch die SBK macht sich für ein möglichst diverses – und dadurch gerechteres – Gesundheitssystem stark. Denn wenn Unterschiede wie Geschlecht, Alter, soziale Herkunft und persönliche Situationen stärker berücksichtigt werden, können wir unseren Versicherten noch bessere und passendere Leistungen bieten.

Gesundheits-Check-up

Nutzen Sie die Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten.

Der Gesundheits-Check-up dient der Früherkennung von Krankheiten, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Diabetes mellitus. Darüber hinaus sollen gesundheitliche Risiken wie zum Beispiel Bluthochdruck frühzeitig erkannt werden. Frauen und Männer zwischen 18 und 34 Jahren können den Gesundheits-Check-up einmalig in Anspruch nehmen. Ab 35 Jahren kann der Check-up alle drei Jahre durchgeführt werden. Für Personen ab 35 Jahren wird der Gesundheits-Check zudem einmalig um ein Hepatitis-B- und -C-Screening ergänzt. Wenn Ihre Ärztin oder Ihr Arzt Risikofaktoren rechtzeitig erkennt, profitieren Sie gleich doppelt: Erkrankungen können frühzeitigt behandelt werden und Sie haben die Chance, Ihren Lebensstil gesünder zu gestalten.

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