Nach Corona: Nähe neu lernen
Psychotherapeutin Dr. Alena Rentsch über den Alltag nach Corona und wie wir uns an die neue Normalität gewöhnen können

Corona hat vieles verändert – wie wir arbeiten, reisen oder einkaufen. Aber vor allem, wie wir miteinander leben. War es früher mehr als selbstverständlich, in der Bahn, im Restaurant oder im Café nebeneinander zu sitzen, sich zu unterhalten oder eng aneinander vorbeizudrängeln, so erscheint es uns heute fast schon merkwürdig, wenn sich mehr als zehn Menschen gleichzeitig an einem Ort befinden. Schon seit mehr als einem Jahr haben wir gelernt, soziale Nähe als Risiko für unsere Gesundheit zu empfinden. Mit den Lockerungen kehrt nun auch der soziale Alltag zurück, doch wie sollen wir mit der sogenannten „neuen Nähe“ umgehen? Wir haben mit Experten darüber gesprochen, mit welchen Strategien es gelingen kann, uns an die neue alte Normalität zu gewöhnen.
Resilienz – wie wichtig unsere innere Widerstandskraft während und nach Corona ist
Frau Dr. Alena Rentsch ist Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie und weiß, dass es beim Umgang mit der neuen Nähe entscheidend auf die eigenen Widerstandskräfte ankommt, genauer gesagt, auf die sogenannte Resilienz. „In der Psychologie bezeichnet Resilienz die Fähigkeit, schwierige Situationen flexibel zu meistern und sogar daran zu wachsen. Und zwar so, dass die psychische Gesundheit unbeschadet erhalten oder schnell wiederhergestellt werden kann. Kurz gesagt: Resilienz ist die innere Widerstandskraft des Menschen.“
In Pandemie-Zeiten wie diesen werden viele Menschen verunsichert,
„All diese Faktoren sind auch Teil der Resilienz und tragen somit zur Stärkung des ,psychischen Immunsystems‘ bei“, erklärt Dr. Alena Rentsch. „Selbstwirksamkeit bedeutet, dass man Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Können hat, dass man daran glaubt, neue Dinge lernen zu können, Einfluss zu nehmen, und so lernt, Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.“

Unsere Expertin
Dr. Alena Rentsch, Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie
Studierte in Göttingen sowie Mannheim Psychologie und hat 2016 an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg promoviert. Sie verfügt über Zusatzqualifikationen zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen sowie zur Psychotherapie in Gruppen.
Gewohnter Ausnahmezustand
Wir haben uns daran gewöhnt, beim Einkaufen eine Maske zu tragen, mit Abstand an der Kasse Schlange zu stehen oder vorab Plätze im Freibad zu reservieren. Ob diese neuen Verhaltensmuster während der Corona-Pandemie Veränderungen im Gehirn zur Folge haben, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden, da bisher keine Studien dazu publiziert wurden. „Ganz allgemein ist es jedoch so, dass unser Erleben, Fühlen, Denken und Handeln Spuren in unserem Gehirn hinterlassen“, so Dr. Alena Rentsch, „in Bezug auf die Nähe mit anderen Menschen kann man sich das so vorstellen: Der souveräne Umgang mit anderen ist ein Pfad, auf dem wir früher häufig gelaufen sind, der Weg war ganz klar zu erkennen. Nun haben wir diesen Weg einige Monate nicht so häufig benutzt. Es ist etwas Gras darüber gewachsen und die Büsche am Rand des Weges versperren die klare Sicht. Je öfter wir jedoch diesen Pfad wieder benutzen, desto einfacher werden wir uns wieder auf dem Weg zurechtfinden.“ Das heißt, wir sind in der Lage, alte Verhaltensmuster zu reaktivieren.
Eine neue Herausforderung: die Rückkehr zur alten Normalität
Natürlich freut sich auch jeder darauf, wieder ohne Test, Maske und Abstand in ein Restaurant zu gehen oder Freunde und Familie einzuladen, doch vielen kann diese scheinbare Normalität erst mal schwerfallen.
„So sehr wir uns alle auf die Lockerungen und das Ende des Lockdowns gefreut haben, so herausfordernd kann es auch sein, wieder zu einer neuen alten Normalität zurückzukehren“, erklärt Dr. Rentsch, „dabei ist es ganz normal, dass wir uns erst mal wieder daran gewöhnen müssen, andere zu umarmen, in ein gut besuchtes Restaurant zu gehen oder zurück im Büro zu sein. Denn Situationen, die wir schon lange nicht mehr erlebt haben oder die wir nicht gut einschätzen können, führen erst mal zu Verunsicherung und vielleicht auch zu Stress.“
Der Umgang mit dem Ungewohnten: Warum wir selbst unser bester Ratgeber sind
Es kann hilfreich sein, zu akzeptieren, dass man nicht von heute auf morgen einen Schalter umlegen muss, sondern sich Zeit gibt, um sich wieder an die vielen sozialen Situationen zu gewöhnen. Frau Rentsch sagt, dass wir alle enorm viele Ressourcen haben, die uns dabei unterstützen, uns an Veränderungen und an neue Situationen anzupassen. Genauso wie wir zu Beginn der Pandemie recht schnell gelernt haben, Abstand zu halten und Maske zu tragen, werden wir nach einer gewissen Übergangsphase lernen, uns auch wieder physisch näherzukommen.
Dabei spielen der
Um Selbstfürsorge zu üben, kann man sich zum Beispiel fragen: Wie geht es mir gerade auf einer Skala von eins bis zehn? Wenn ich eine Zahl identifiziert habe, dann kann ich mich fragen: Was bedeutet diese Zahl? Woran merke ich, dass es beispielsweise eine fünf ist? Dann kann man noch einen Schritt weitergehen und sich fragen: Was könnte ich machen, um auf der Skala einen Schritt weiterzukommen, also zum Beispiel von einer fünf auf eine sechs? Könnte ich vielleicht jemanden anrufen? Sollte ich vielleicht etwas absagen, das ich derzeit nicht schaffe oder machen möchte?
Eigene Grenzen kennen, fremde Bedürfnisse akzeptieren: Was ist Sozialkompetenz?
Soziale Kompetenz bedeutet, dass wir gut mit anderen Menschen umgehen können und uns auch in sozial schwierigen Situationen anpassen. So kann es uns helfen, mehr darauf zu achten, wie es Menschen in unserem Umfeld geht, und zu versuchen, uns in die Situation anderer hineinzuversetzen. Sowohl in diejenigen, die sich euphorisch ins sich langsam normalisierende Leben stürzen, als auch in diejenigen, die mit Überforderung, Verlust und Schmerz zu kämpfen haben.
Das bedeutet, Kompromisse einzugehen zwischen der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und der Anpassung an andere. „In der aktuellen Zeit kann das bedeuten, dass wir bewusst darauf achten, unsere eigenen Grenzen wahrzunehmen und diese auch zu kommunizieren“, so Frau Dr. Rentsch. „Nein, heute nicht ...“ oder „Danke für Einladung. Anstatt ins Restaurant zu gehen, wollen wir lieber ...“ sind Sätze, die wir üben können, um uns selbst den Raum zu geben, uns wieder an Situationen zu gewöhnen, die uns vielleicht zunächst schwerfallen.
Wir sollten auf uns selbst hören und an das, was uns guttut. So stellen wir vielleicht fest: Wenn wir beruflich zum Beispiel unterrichten und mit vielen Menschen zu tun haben, die sich alle in einem Klassenraum tummeln, haben wir möglicherweise eher das Bedürfnis, nach der Arbeit etwas alleine in der Natur zu unternehmen.
Genauso wichtig ist es jedoch auch, die Bedürfnisse anderer zu respektieren, und wenn nötig, sich auch anzupassen. Soll heißen, wenn wir merken, jemand ist mit unserem Vorschlag überfordert oder möchte zum Beispiel noch nicht an einer Gemeinschaftsaktivität teilnehmen, dann sollte dies nicht als negativ bewertet oder übergangen werden.
Was wir im Lockdown über uns gelernt haben
Viele von uns haben vor und auch während der Corona-Pandemie viel Stress erlebt. Der Anspruch, berufliche und private Anforderungen unter einen Hut zu bekommen, ist für die meisten eine echte Herausforderung. Mit dem Lockdown mussten wir in manchen Bereichen zwangsläufig entschleunigen: Essen liefern lassen, keine lästigen Fahrtwege zur Arbeit, keine Ausreden, warum wir nicht ins Fitnessstudio gehen. Viele Dinge haben wir uns leichter gemacht.
„Das mulmige Gefühl, das uns derzeit begleitet, ist womöglich auch darauf zurückzuführen, dass nun wieder viele dieser Verpflichtungen auf uns warten. Das Fitnessstudio macht wieder auf, die Freunde laden zum Essen ein und zur Zahnärztin oder zum Friseur müsste man auch mal wieder. Angetrieben von äußeren Anforderungen und inneren Erwartungen geraten viele von uns gewissermaßen in Stress“, erklärt Frau Dr. Rentsch und sieht darin aber auch eine Chance, „hier kann es hilfreich sein, sich einmal bewusst zu machen, was der Lockdown uns womöglich über uns selbst gelehrt hat. Es kann sich dabei um Eigenschaften wie Geduld, Durchhaltevermögen oder Anpassungsfähigkeit handeln. Aber auch um konkrete Gewohnheiten wie die täglichen acht Stunden Schlaf, Familienzeit, regelmäßige Telefonate mit Verwandten, Ordnung machen in der Wohnung, ausgiebige Spaziergänge oder gemütliche Abende vor dem Fernseher oder mit einem Buch in der Hand. Aus einer Krise zu lernen, bedeutet, die eigene Resilienz zu stärken.“
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