Vagusnerv im Fokus – ein neuer Weg zu mehr Entspannung?
Wir sprechen mit Prof. Dr. Nils Kroemer über, wie man den Vagusnerv stimulieren kann

Einfach abschalten – das wünschen sich viele in Zeiten von Dauerstress und digitalem Overload. In sozialen Medien taucht dazu immer häufiger ein neuer Self-Care-Trend auf: die Stimulation des Vagusnervs. Sanfte Massagen, Atemübungen, Eisbäder oder spezielle „Vagus-Meditationen“ sollen helfen, Stress zu reduzieren und das Wohlbefinden zu steigern. Selbst Geräte zur Nervenstimulation werden inzwischen beworben. Doch wie viel davon ist wissenschaftlich belegt und wie wirksam sind diese Methoden wirklich?
Um das einzuordnen, haben wir mit Prof. Dr. Nils Kroemer, Professor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Bonn, gesprochen. Er erforscht seit Jahren, wie die gezielte Stimulation des Vagusnervs eingesetzt werden kann, um psychische und körperliche Erkrankungen zu lindern.
REDAKTION Herr Prof. Dr. Kroemer, lange war er unterschätzt, jetzt steht der „Vagusnerv“ im Fokus. Auch auf TikTok oder Instagram. Aber was genau ist der Vagusnerv eigentlich?
Prof. Dr. Nils Kroemer Der Vagusnerv ist einer von 12 Hirnnerven. Unter diesen nimmt er eine besondere Stellung ein, weil er sich im Körper am weitläufigsten verzweigt. Daher auch sein Name, der vom lateinischen „vagus“ stammt, was so viel wie „umherschweifend“ oder „wandernd“ bedeutet. Genau das beschreibt ihn gut. Er verbindet nahezu alle wichtigen Organsysteme mit dem Gehirn, wie etwa den Verdauungstrakt, das Herz oder die Lunge.
R Welche zentralen Aufgaben erfüllt der Vagusnerv im Körper?
NK Der Nerv fungiert als eine Art Datenautobahn. Etwa 80 % der Signale, die über den Vagusnerv laufen, kommen dabei aus den Organen und werden an das Gehirn weitergeleitet. So ist unser Gehirn jederzeit darüber informiert, was im Körper gerade passiert – ob der Magen leer ist, der Herzschlag steigt oder die Atmung flacher wird. Das ermöglicht es uns, auf vielen Ebenen zu reagieren: Wenn wir Hunger verspüren, suchen wir uns etwas zu essen. Oder wenn wir merken, dass wir in einer unsicheren Situation sind und unser Herz aus Angst schneller schlägt, laufen wir weg und suchen Schutz. Der Vagusnerv hilft also, körperliche Signale wahrzunehmen und in adäquates Verhalten umzusetzen.
R Welche Rolle spielt der Vagus bei der Stressreduktion und Entspannung?
NK Unser autonomes Nervensystem besteht aus zwei Hauptbereichen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Zwischen beiden gibt es eine Art Arbeitsteilung: Bei Angst oder in Stresssituationen aktiviert der Sympathikus den Körper. Ist die Gefahr vorüber, sorgt der Parasympathikus wieder für Ruhe, Regeneration und Entspannung. Der Vagusnerv ist überwiegend Teil des Parasympathikus und spielt damit eine zentrale Rolle dabei, den Körper wieder in einen Erholungszustand zu bringen.
Allerdings ist das Zusammenspiel dieser beiden Systeme komplexer, als es oft dargestellt wird. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, sich zu entspannen, liegt das selten ausschließlich an einer Störung des Parasympathikus oder des Vagusnervs. Entscheidend ist vielmehr das Gleichgewicht beider Systeme. Deshalb sollte man zunächst herausfinden, wodurch dieses Gleichgewicht gestört wurde. Eine der Möglichkeiten, das autonome Nervensystem wieder zu regulieren und mehr Balance herzustellen, ist die Stimulation des Vagusnervs.
R Die medizinische Forschung arbeitet seit vielen Jahren an der Vagusnervstimulation. Wie funktioniert diese genau?
NK Seit rund 30 Jahren wird die invasive Stimulation klinisch eingesetzt, vor allem bei Epilepsie: Dabei wird ein kleines Gerät unterhalb des Schlüsselbeins implantiert, das den Vagusnerv kontinuierlich mit elektrischen Impulsen aktiviert. Weil dieser Eingriff aufwendig ist, wurden später nicht invasive Verfahren entwickelt, die den Vagusnerv von außen – am Hals oder am Ohr – stimulieren. Diese Methoden werden seit etwa 20 Jahren untersucht.
Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass sich der Hirnstamm, das wichtigste Zielgebiet der Vagusfasern, auch durch äußere Stimulation zuverlässig aktivieren lässt. Noch ist aber unklar, wie stark und präzise diese Methode im Vergleich zur invasiven Variante wirkt und welche Einstellungen dafür optimal sind. Zudem wird noch erforscht, ob die nicht invasive Stimulation künftig auch bei Stressprävention, Burnout oder zur allgemeinen Entspannung gesunder Menschen eingesetzt werden kann.
R Was weiß man heute über die Wirkung einer Vagusnervstimulation auf die Psyche – etwa bei chronischem Stress, innerer Unruhe oder Depressionen?
NK Die Vagusnervstimulation kann bei einigen psychischen Beschwerden hilfreich sein, doch die genauen Mechanismen sind noch nicht vollständig verstanden. Entdeckt wurde ihre antidepressive Wirkung eher zufällig bei Patientinnen und Patienten, die wegen schwerer Epilepsie behandelt wurden. Heute geht man davon aus, dass die Stimulation bestimmte Gehirnregionen beeinflusst, die an grundlegenden Funktionen wie Motivation und emotionalem Erleben beteiligt sind. Zudem könnte sie entzündliche Prozesse dämpfen, die bei einem kleinen Teil der Betroffenen mit Depressionen eine Rolle spielen.
Eine weitere Theorie besagt, dass die Stimulation körperliche Signale verstärkt und deren Verarbeitung im Gehirn verbessert. Bei Depressionen und chronischem Stress scheinen solche Signale – etwa das Hungergefühl – oft nicht mehr richtig wahrgenommen zu werden. Dieses gestörte Zusammenspiel zwischen Körperempfindungen und Stimmung könnte durch die Vagusnervstimulation teilweise wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.
R Bei welchen körperlichen Symptomen kann eine gezielte Aktivierung des Vagusnervs ebenfalls hilfreich sein?
NK Aktuelle Studien untersuchen die Stimulation bei einer Vielzahl von Erkrankungen, weil der Vagusnerv viele Organsysteme beeinflusst. Besonders aussichtsreich erscheint sie bei körperlichen Beschwerden wie ausgeprägter Erschöpfung (Fatigue) sowie bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder dem Reizdarmsyndrom, da der Vagusnerv hier eine wichtige Rolle in der Signalweiterleitung übernimmt. Darüber hinaus wird die Methode auch bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Angsterkrankungen, Parkinson und anderen neurodegenerativen Erkrankungen erforscht.
R Viele fragen sich, ob sie den Vagusnerv auch selbst aktivieren können. Lassen sich zum Beispiel durch Ausdauersport, Kältereize oder Atemübungen positive Effekte erzielen?
NK Man kann den Vagus zwar auf natürliche Weise beeinflussen, aber eher indirekt und nicht so gezielt wie mit medizinischen Verfahren. Am besten untersucht ist die Atmung: Atemtechniken können nachweislich entspannen und stehen in enger Wechselwirkung mit der Funktion des Vagusnervs. Es gibt zudem Hinweise, dass eine mechanische Stimulation am Hals oder Ohr – etwa durch Massage – bei einem Teil der Menschen zu einer Aktivierung führen kann.
Auch Kältereize wie kaltes Wasser im Gesicht oder Ausdauersport lösen körperliche Reaktionen aus, die den Vagus indirekt mitbeeinflussen könnten. Wichtig ist jedoch: Diese Alltagsmethoden sind kein Ersatz für eine medizinische Vagusnervstimulation, die über viele Stunden am Tag und über Monate eingesetzt wird, um therapeutische Effekte zu erzielen.
R Im Netz kursieren inzwischen zahlreiche Geräte zur Vagusnervstimulation. Was halten Sie als Mediziner von diesen Methoden?
NK Es gibt derzeit nur ein einziges in Europa zugelassenes medizinisches Gerät, das tatsächlich gut untersucht ist und zuverlässig den Hirnstamm – also die Zielregion des Vagusnervs im Gehirn – stimulieren kann. Dieses nutzen auch Forschende. Viele der online erhältlichen Geräte sind dagegen Lifestyle-Produkte, die nur ein einfaches Sicherheitszertifikat benötigen und keine medizinischen Anforderungen erfüllen müssen, z.B. ob sie besser wirken als eine passende Kontrollbedingung, bei der nicht der Vagusnerv stimuliert wird. Ihre Wirksamkeit ist zweifelhaft, weil sie oft nicht an den anatomisch richtigen Stellen sitzen, an denen der Vagusnerv überhaupt erreichbar wäre. Wer etwas für sein Wohlbefinden tun möchte, spart deshalb besser das Geld und macht lieber Atemübungen.
Atemtechniken für Sie zum Ausprobieren
Die Box-Atmung (4-4-4-4) hilft Ihnen, schnell zur Ruhe zu kommen. Sie atmen vier Sekunden ein, halten vier Sekunden den Atem an, atmen vier Sekunden aus und machen anschließend vier Sekunden Pause. Diese Methode bringt Sie ins Hier und Jetzt und unterstützt beim Abschalten.
R Gerade in dieser Zeit, in der viele unter Dauerbelastung stehen: Haben Sie einen persönlichen Tipp, um wieder mehr Entspannung zu finden?
NK Der wichtigste Tipp ist, wieder stärker auf die Signale des eigenen Körpers zu achten. Viele Menschen merken zwar, dass sie Pausen brauchen, gönnen sie sich aber nicht – bis Stress sich so aufbaut, dass Entspannung kaum noch gelingt. Sich regelmäßig kleine Auszeiten zu nehmen, nichts tun zu müssen und einfache Routinen wie bewusstes Essen oder kurze Ruhephasen in den Alltag einzubauen, kann langfristig sehr viel bewirken. Diese Pausen sind kein Luxus, sondern ein zentraler Bestandteil mentaler Gesundheit.
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Bildquelle: ©Kroemer



