Gute Beratung? Verboten!

Hintergrund: Beratungsrechte der Krankenkassen (16.08.2018)

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Wie Kassen ihren Versicherten helfen könnten, wenn sie die Behandlungsinformationen aus dem gesamten Gesundheitswesen nutzen dürften.

Drei Fälle – eine Gemeinsamkeit

Ein junger Mann, nennen wir ihn Sebastian, leidet seit seiner Geburt an schwerer Hämophilie, er ist Bluter. Die Behandlung hat sein Hausarzt übernommen, die notwendigen Arzneimittel bekommt er beim Apotheker vor Ort. Er wird nicht durch einen auf die Bluterkrankheit spezialisierten Arzt versorgt – das hat Folgen: Die Dosierung seiner Medikamente ist für seinen Bedarf zu hoch, weitere medizinisch notwendige Behandlungen, wie eine Schmerztherapie, erhält er nicht. Bei Sebastian belaufen sich die Arzneimittelausgaben auf vier Millionen jährlich.

Helmut, 87 Jahre alt, Pflegestufe 2, lebt allein und hat keine Angehörigen. Im Alltag zurechtzukommen fällt ihm immer schwerer. In seiner Not ruft er regelmäßig den ärztlichen Bereitschaftsdienst. So kommt er während eines Quartals leicht auf 30 Kontakte mit unterschiedlichen Hausärzten.

Laura leidet an Rheuma. Bis sie diese Diagnose bekam, vergingen Jahre. Zwischen 2013 und 2016 wurde sie rund 20 Mal in unterschiedlichen Kliniken bundesweit stationär aufgenommen.

Die geschilderten Fälle sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Sie haben aber eines gemeinsam: Über eine intelligente Zusammenführung und Analyse der vorliegenden Gesundheitsdaten hätte die Krankenkasse der drei Patienten die offenkundigen Versorgungsdefizite viel früher erkennen und ihre Versicherten beraten können. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, hätten Thomas und Laura die Empfehlung für einen Facharzt erhalten. Helmut hätte in punkto häuslicher Pflege Unterstützung bekommen.

Wieso ist das nicht geschehen? Die Antwort darauf ist einfach. Die Behandlungsinformationen aus dem gesamten Gesundheitswesen laufen bei den Krankenkassen zwar zusammen – die versichertenbezogene Zusammenführung und Nutzung der zur Verfügung stehenden Daten ist Krankenkassen jedoch grundsätzlich untersagt.

Um Versorgungsdefizite im Sinne der Versicherten aufzudecken, ist es notwendig, dass Krankenkassen die verschiedenen Informationen, die sie über ihre und von ihren Versicherten erhalten, auch nutzen dürfen. Nur mit einem erweiterten Beratungsrecht kann umfassende Versicherten- und Patientenberatung Wirklichkeit werden. Und nur mit diesem Recht kann eine Krankenkasse ihrer Verpflichtung zur Beratung ihrer Versicherten, die in § 14 SGB I und § 1 Satz 3 SGB V festgehalten ist, nachkommen.

Mittelfristig brauchen wir eine Lösung, die den zentralen Zugriff auf alle Gesundheitsdaten ermöglicht. Dabei sollten Versicherte selektive und dauerhafte sowie temporäre Zugriffsrechte erteilen können. Um die Qualität der Versorgung zum Wohle des Versicherten zu verbessern, setzt sich die SBK für die systematische Zusammenführung und Analyse von Daten durch die Krankenkassen ein.

Der Umgang mit Daten im Gesundheitswesen – wo muss die Entwicklung hingehen?

Ziel sollte sein, es Krankenkassen zu ermöglichen, ihrem Beratungsauftrag nachzukommen. Gleichzeitig muss aber die Versichertenautonomie gewahrt bleiben, müssen die Versicherten jederzeit Herr über ihre Daten bleiben. Mittelfristig brauchen wir eine Lösung, die den zentralen Zugriff auf alle Gesundheitsdaten ermöglicht. Dabei sollten Versicherte selektive und dauerhafte sowie temporäre Zugriffsrechte erteilen können. 

Um die Qualität der Versorgung zum Wohle des Versicherten zu verbessern, setzt sich die SBK für die systematische Zusammenführung und Analyse von Daten durch die Krankenkassen ein – das können Versorgungsdaten ebenso sein wie Versicherteninformationen oder Daten, die der Versicherte selbst der Krankenkasse zur Verfügung stellt. Wie immer gilt: Die Analyse geschieht nur unter der Voraussetzung, dass der jeweilige Versicherte der Datenanalyse zustimmt. Nur so wird die frühzeitige Identifikation potenzieller Versorgungsdefizite möglich, auf deren Basis die Krankenkasse ihren Kunden proaktive Unterstützungsangebote machen könnte.

Digitalisierung und erweiterte Beratungsrechte – wie könnte eine gesetzliche Lösung aussehen?

Insgesamt bedarf es auf rechtlicher Seite nur einiger weniger Änderungen, um die offenkundig bestehenden Lücken zu schließen und Krankenkassen die Nutzung von Gesundheitsdaten zur Beratung ihrer Versicherten zu ermöglichen.

Die SBK plädiert für die gesetzliche Verankerung des Datenerhebungs-, Datenspeicherungs- und Datenverarbeitungsrechts für Krankenkassen in § 284 SGB V. Damit einhergehend muss festgelegt werden, dass Versicherte ihre Einwilligung in die Datennutzung zu Beratungszwecken im Rahmen einer Datenverfügung geben können und dass ihnen ein Widerrufsrecht zusteht. Mit dieser Datenverfügung hat jeder Versicherte jederzeit unkompliziert die Möglichkeit, selektive, auch temporäre Zugriffsrechte zu vergeben oder diese wieder zu entziehen. Es gibt nur wenige Bereiche, in denen Daten verpflichtend freigegeben werden müssen, alles andere muss in der Autonomie der Versicherten liegen. Das soll für Kontakt- und Versicherungsangaben genauso gelten wie für Informationen über Medikation, Diagnosen, Arztbesuche oder die Rückmeldungen zu Hilfsmitteln. Der Versicherte muss spontan individuelle Zugriffsrechte an Ärzte oder Apotheker geben können, wenn diese im akuten Fall Zugriff auf die Daten benötigen. Hausarzt oder auch die Apotheke des Vertrauens könnten einen dauerhaften Zugriff bekommen. Ebenso die Krankenkassen für die Beratungszwecke. Fachärzte, die während einer zeitlich begrenzten Erkrankung Einsicht brauchen, einen temporären Zugriff. 

Widerspricht ein Versicherter der Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung zum Zweck der passiven oder aktiven Versichertenberatung, muss es seiner Krankenkasse untersagt sein, vorliegende Informationen für die Beratung des betreffenden Versicherten heranzuziehen. Eine Ausnahme sollte nur für Daten gelten, die für die Kostenübernahme einer Leistung oder die Genehmigung eines Leistungsantrages notwendig sind und daher ausgetauscht beziehungsweise eingesehen werden müssen. In diesem Zusammenhang muss das deutsche Recht in allen Punkten mit dem europäischen Recht in Einklang gebracht werden. Der Kerngedanke der seit Mai 2018 geltenden EU-DSGVO, die Datenhoheit der Versicherten und Patienten, wird aktuell nicht entsprechend umgesetzt. Ganz im Gegenteil, im Referentenentwurf zum so genannten 2. Datenschutz-Anpassungsgesetz wird die Einwilligung im Bereich der Kranken- und Pflegekassen sogar explizit verboten. Lediglich dort, wo das Sozialgesetzbuch eine Einwilligung ausdrücklich vorsieht, kann der Versicherte seine Datenhoheit noch ausleben.

Der Missbrauch des Datennutzungsrechts zum Schaden von Versicherten sollte mit harten Sanktionen belegt werden. Maßnahmen etwa, die der Risikoselektion dienen, sind explizit zu verbieten und sollten mit Bußgeldern belegt werden. Hier ist mit der EU-DSGVO und den dort festgelegten Regelungen ein großer Schritt getan, der auch im oben schon genannten Referentenentwurf entsprechend verankert ist. Zudem sollte eine engmaschige, gemeinsame Prüfung durch die Kassenaufsichten (Land und Bund gemeinsam) über alle Krankenkassenarten hinweg erwogen werden, um Risikoselektion zu unterbinden. Die versichertenorientierte Datennutzung sollte durch ein systematisches und kassenübergreifendes Qualitätsmanagement unterstützt werden. Denkbar ist beispielsweise eine zentrale Meldestelle, an die sich Versicherte wenden können, wenn Verdacht auf Missbrauch des erweiterten Beratungsrechts der Krankenkassen besteht.

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