Weaningpotenzial auch in der ambulanten Intensivpflege regelmäßig überprüfen

Hintergrund: Interview mit Alexandra Standl, Expertin für Intensivpflege bei der SBK, über die aktuellen Chancen und Herausforderungen bei der Beatmungsentwöhnung (Weaning) (25.03.2019)

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Im europäischen Vergleich ist Deutschland eines der Länder, die aktuell die meisten Betten auf Intensivstationen für Beatmungen vorhalten. Halten Sie das für eine gute Entwicklung?

Standl: Der medizinisch-technische Fortschritt in der Beatmungsmedizin sorgt dafür, dass mehr Patienten gleichzeitig auf einem sehr hohen Qualitätsstandard betreut werden können. Es geht hier um Menschen, die unvorhergesehen und jederzeit in einen lebensbedrohlichen Zustand kommen können. In diesen Fällen muss eine qualifizierte Pflegekraft rund um die Uhr anwesend sein, um gegebenenfalls sofort intervenieren zu können. Das ist für die Patienten zunächst einmal gut!

Nichtsdestotrotz wird die steigende Zahl der Beatmungspatienten von Fachgesellschaften (z.B. der DIGAB) kritisch beobachtet. Sie bemängeln, dass Entwöhnungspotenziale häufig nicht vollständig ausgeschöpft werden und in einigen Fällen nicht erkannt wird, dass Atemhilfen nicht notwendig sind. Die Folge ist, dass diese Patienten langfristig und im Zweifel für ihr restliches Leben an Maschinen hängen.

Der Trend geht inzwischen aber auch hin zu Spezialeinrichtungen wie zum Beispiel sogenannten Weaning-Zentren, die darauf ausgerichtet sind, ihre Patienten bei der Wiederaufnahme des selbstständigen Atmens zu unterstützen. Diese Entwicklung begrüße ich, da in diesen Zentren die notwendigen medizinischen und pflegerischen Fachkompetenzen für die Beatmungsentwöhnung vorhanden sind.
 

Welche Voraussetzungen müssen langzeitbeatmete Patienten erfüllen, damit eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät – das sogenannte Weaning – erfolgsversprechend ist?

Standl: Zunächst einmal muss der Patient selbst zu einer Beatmungsentwöhnung bereit sein und seine Zustimmung dafür geben, dass das Weaning an ihm durchgeführt wird. Wichtig ist außerdem die medizinische Beurteilung des Patienten: So besitzen diejenigen, bei denen gut behandelbare Krankheiten (beispielsweise bestimmte Konstellationen bei COPD) zur Beatmung geführt haben, das größte Potential für eine erfolgreiche Entwöhnung. Eine wichtige Rolle spielen zudem psychosoziale Aspekte wie zum Beispiel die Unterstützung durch Angehörige oder Freunde. Wenn die Patienten diese Voraussetzungen erfüllen, stehen die Chancen gut, dass sie das selbstständige Atmen wiedererlernen können.  
 

Warum wird das Weaning aktuell noch nicht bei allen Betroffenen angewendet, die theoretisch in der Lage wären, das selbstständige Atmen wieder zu erlernen?

Standl: Das kann unterschiedliche Gründe haben – deswegen ist es wichtig, jeden Fall individuell zu betrachten. Denkbar ist beispielsweise, dass behandelnde Ärzte zu wenig Kenntnisse auf dem Gebiet der Beatmungsentwöhnung besitzen und ihre Patienten dadurch nicht hinreichend über die Möglichkeiten des Weanings aufklären. Infolgedessen werden mögliche Entwöhnungspotenziale im weiteren Verlauf der Behandlung unter Umständen nicht intensiv genug weiterverfolgt.

Deshalb plädieren wir dafür, bei Patienten in der ambulanten Intensivpflege das Weaningpotenzial regelmäßig zu überprüfen – beispielsweise im Rahmen einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder in einem Weaning-Zentrum. Diese Untersuchungen finden allerdings aktuell nicht immer statt. Hierfür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten notwendig.
 

Wie setzt sich die SBK für ihre betroffenen Versicherten ein, damit möglichst viele von ihnen von der Beatmung entwöhnt werden und an Lebensqualität hinzugewinnen?

Standl: Wir bieten Betroffenen und Angehörigen eine persönliche Beratung durch SBK-Pflegeexperten mit langjähriger Erfahrung – auch bereits während der Beatmungstherapie. Außerdem begleiten wir den Versorgungsweg, damit sowohl die Versorgung in der Klinik als auch die Nachversorgung strukturiert abläuft. Wir beraten unsere Kunden im Vorfeld auch zu den verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten, beispielswiese um Entwöhnungspotenziale überprüfen zu lassen. Diese Informationen helfen den Versicherten dabei, zu entscheiden, welche Versorgung am besten zu ihnen passt. Darüber hinaus schließen wir Verträge mit den Pflegediensten, in denen wir uns für hohe Qualitätsstandards und die Möglichkeiten der Entwicklungspflege einsetzen.

Im Dezember letzten Jahres haben wir außerdem den bundesweit ersten Qualitätsvertrag zur Beatmungsentwöhnung von langzeitbeatmeten Patienten mit der Karl-Hansen-Klinik in Bad Lippspringe geschlossen. Dieser Vertrag ist seit Kurzem für weitere Partner geöffnet, sodass andere Krankenkassen ihm ab sofort beitreten können. Außerdem haben wir durch den Vertrag den Rahmen dafür geschaffen, dass Weaning-Zentren einen gleichgestalteten Vertrag mit der SBK und kooperierenden Krankenkassen abschließen können.
 

Was wäre in Ihren Augen notwendig, um den aktuellen „Fehlanreizen“ für Kliniken und Intensivpflegedienste sowie den Missständen bei der Pflege beatmeter Patienten entgegenzuwirken?

Standl: Hier ist die gemeinsame Selbstverwaltung gefordert, einen Rahmen zu schaffen, in dem die richtigen Anreize für eine einheitliche und bessere Versorgungsqualität gesetzt werden. Außerdem plädieren wir dafür, die Patienten stärker in den Fokus der Versorgung zu rücken und wirtschaftliche Interessen hintenanzustellen. In diesem Zusammenhang fordern wir beispielsweise, die Übernahme von Pflegediensten durch internationale Finanzinvestoren (Private Equity-Gesellschaften) einzudämmen, da diese oft auf hohe Renditen abzielen. Dies geschieht meist zu Lasten der Pflegekräfte.

Nicht zuletzt tragen die bereits beschriebenen Qualitätsverträge mit zertifizierten Weaning-Zentren dazu bei, Anreize für eine verbesserte Entwöhnungsbehandlung zu setzen. So hat die SBK beispielsweise die Fallbesprechung als einen festen Bestandteil in ihren Vertrag aufgenommen. Durch diese individuelle Betreuung steigen die Chancen vieler Betroffener auf ein selbstbestimmtes Leben ohne künstlicher Beatmung.
 

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