Kein Qualitätsurteil ohne Versichertenurteil
Meinung: SBK-Vorstand Hans Unterhuber fordert mehr Einbindung von Versicherten und Patienten (04.06.2019)
Um die Qualität in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern, müssen wir Versicherte und Patienten stärker einbinden. In der SBK haben wir uns deshalb entschlossen, unser Beschwerdemanagement radikal umzubauen und unsere Dienstleistung künftig gemeinsam mit Versicherten zu gestalten. Wir lernen damit schnell und viel. Unsere Empfehlung für die GKV lautet: Weg von der Expertokratie, hin zu einem Qualitätswettbewerb, bei dem das Urteil der Versicherten genauso Transparenz hat wie der Preis oder eine Satzungsleistung. – und genauso viel Gewicht.
Um die Qualität in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern, brauchen wir keine Wissenschaftler, Funktionäre oder Politik-Gremien. Wir brauchen zu allererst die Versicherten. Wir müssen ihnen zuhören und unser Tun an ihnen ausrichten. Das ist eine Erkenntnis, die die SBK in den letzten Jahren vom Kopf auf die Beine gestellt hat. Die Rückmeldung von Versicherten war für uns schon immer zentral: Seit mehr als 10 Jahren führen wir Versichertenbefragungen durch. Wir haben ein professionelles Beschwerdemanagement mit regelmäßigen internen Lernschleifen. Wir sensibilisieren Mitarbeiter für Qualitätssicherung. Wir knüpfen die Gehälter des oberen Managements an die Zufriedenheit unserer Versicherten. Doch in den letzten Monaten haben wir zwei entscheidende Dinge verändert:
Unser Fazit: Wenn wir die Qualität in der GKV wirklich verbessern wollen, müssen wir diejenigen einbinden, um die es geht – die Versicherten und Patienten. Ihre Perspektive und ihr Feedback muss eine zentrale Rolle bei der Beurteilung spielen, ob wir als Krankenkasse einen guten Job machen oder nicht. Und am Ende muss diese Bewertung der Versicherten auch für die Öffentlichkeit transparent gemacht werden – genau wie der Zusatzbeitrag oder eine Satzungsleistung.
Beschwerde-Artikulation als Schlüssel
Die Zahl der registrierten Beschwerden in der SBK hat sich im Laufe des letzten Jahres verfünffacht. Der Anstieg ist Folge eines strategischen Umdenkens, das sich unter anderem auf das Beschwerdeverständnis und das dahinterliegende Steuerungsmodell bezieht. Auch in anderen Branchen werden Kundenrückmeldungen – positive und negative – dafür genutzt, die Qualität der eigenen Arbeit zu verbessern – nicht nur auf dem Papier, sondern mit verbindlichen KPIs. Professionelle Dienstleister erkennen Beschwerdeführer als wichtige Kunden, die sie nur halten können, wenn es ihnen gelingt, sie auch in dieser Problemsituation vom eigenen Unternehmen zu überzeugen. Deshalb ermuntern sie ihre Kunden, sich bei Verärgerung zu beschweren und tragen dafür Sorge, dass diese Beschwerden dokumentiert und für interne Qualitätsverbesserungen genutzt werden.
Grundlage für diesen Steuerungsansatz ist der sogenannte „Verärgerungs-Eisberg“ der die Tatsache verbildlicht, dass die im Unternehmen registrierten Beschwerden nur die Spitze der Kundenverärgerung sichtbar machen, während deren weitaus größter Teil unsichtbar bleibt. Dies geschieht zum einen, weil sich viele Kunden trotz Verärgerung nicht beschweren. Zum anderen werden artikulierten Beschwerden im Unternehmen oft nicht als solche registriert – aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Als SBK haben wir versucht, dieses Steuerungsmodell auf uns zu übertragen: Zum einen möchten wir die Artikulationsquote steigern und mehr Versicherte dazu bringen, sich bei einer Enttäuschung oder Verärgerung zu melden. (Das gilt natürlich auch für Lob bzw. positive Erlebnisse mit der SBK!) Zum anderen benötigen wir innerhalb der SBK ein einheitliches Verständnis dafür, was eine Beschwerde ist, sowie eine Kultur, die Beschwerde-Dokumentation fördert, in keinem Fall aber verhindert oder unterdrückt. Am Ende muss es unser Ziel sein, die Verärgerungsquote für die SBK zu senken und gleichzeitig die Qualität unserer Dienstleistung zu verbessern.
Versicherten mit einbinden
Im nächsten Schritt gilt es nun, noch gezielter aus diesen positiven und negativen Rückmeldungen zu lernen. Unser erstes Learning ist eindeutig: Nur wenige Beschwerden beziehen sich explizit auf Leistungen, die die SBK aus diversen Gründen nicht übernehmen kann. Im Großteil der Rückmeldungen geht es um vermeintlich softe Themen wie Kommunikation, Prozess und Service, die in der Krankenversicherung mehr sind als bloße Hygienefaktoren. Versicherte wünschen sich im Ernstfall unkomplizierte, schnelle Hilfe und eine Kommunikation auf Augenhöhe.
Unser zweites Learning ist ebenfalls naheliegend: Wir binden unsere Versicherte künftig bei der Prozess- und Kommunikationsgestaltung aktiv mit ein. Denn das Feedback zeigt eindrücklich, dass die Expertise als Sozialversicherungsfachfrau/mann alleine nicht ausreicht, um einen guten Prozess zu gestalten. Dass es eben nicht ausreicht, sich im stillen Kämmerlein ein Vorgehen oder eine Kommunikation zu überlegen. Vielmehr müssen wir Motivlage und Erwartung mit den Betroffenen diskutieren. Entscheidend ist am Ende, wie unsere Versicherten das Vorgehen erfahren – die Customer Experience.
In anderen Branchen ist dies bereits Usus. Keine App, die vor dem Launch nicht intensiv in der Zielgruppe getestet worden ist. Kein digitaler Service, der nicht vorher mit Kunden verprobt wurde. In der GKV und im Gesundheitswesen insgesamt ist das ein absolutes Novum. In der SBK setzen wir seit letztem Jahr auf regelmäßige Versicherten-Workshops. In den Bereichen Hilfsmittelversorgung oder Pflege nutzen wir den Austausch unter anderem dazu, einen grundsätzlichen Überblick über die Erwartungen und Painpoints der Betroffenen zu erhalten. Wir nutzen diese Dialog-Formate aber auch, um konkrete Ideen zu sammeln, Lösungen zu entwickeln und zu testen. Das gilt zum Beispiel für unsere Online-Geschäftsstelle MeineSBK. Die Tester-Community verprobt unsere Ideen, hilft uns dabei, geplante Weiterentwicklungen zu priorisieren und stellt neue Use Cases zur Diskussion.
Weg von der Expertokratie
Unsere Erfahrung im Umgang mit Kunden-Feedback und bei der proaktiven Einbindung von Versicherten zeigen ganz deutlich, dass echte Qualität nur entstehen kann, wenn wir Betroffene beteiligen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wir müssen im Gesundheitswesen allgemein, aber vor allem auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung weg von der bestehenden Expertokratie. Heute definieren in der Regel Experten, was ein gutes Ergebnis für den Versicherten oder Patienten ist. Ärzte, Kassenmanager und Gremien bestimmen, was eine gute Behandlung oder eine gute Krankenkasse ist – weitgehend unabhängig davon, was der Patient tatsächlich erwartet oder erlebt. Der mündige Patient ist oftmals nicht mehr als ein schnödes Lippenbekenntnis, in der Praxis wird ihm ein Urteil über seine Gesundheitsbelange oft nicht zugetraut. Dies gilt es zu ändern.
Immerhin: In der Medizin gewinnen sogenannte Patient Reported Outcomes zunehmend an Bedeutung. Durch die positiven und negativen Rückmeldung des Patienten auf eine Behandlung sammeln Ärzte zusätzliche Informationen, die durch klinische Parameter nicht erfasst werden, aber für die reale Lebenssituation des Patienten zentral sind. Die Perspektive des Patienten wird dann bei der Beurteilung des Behandlungsergebnisses berücksichtigt. Dahin müssen wir auch in der GKV kommen – die Perspektive der Versicherten muss bei der Bewertung der Krankenkasse eine zentrale Rolle spielen. Denn: Es ist eine Sache, ob die Ablehnung einer Kur rechtlich korrekt ist. Es ist etwas ganz Anderes, wie der Patient die Ablehnung seiner Kur im Kontakt durch seine Krankenkasse erlebt bzw. ob er für eine Genehmigung kämpfen muss.
Hin zum Qualität-Wettbewerb
Warum tun wir uns in der GKV so schwer mit diesem Schritt? Die Erklärung ist einfach und ernüchternd: Im Kassen-Wettbewerb geht es heute vorwiegend um den Preis und einzelne Satzungsleistungen oder Selektivverträge. Die Einbindung von Versicherten bei der Gestaltung des Leistungskatalogs und -umfangs macht tatsächlich nur eingeschränkt Sinn, zu eng ist das rechtliche Korsett. Themen wie Leistungsbereitschaft, Prozessgestaltung, Kommunikation und Service spielen für Versicherte im Bedarfsfall zwar eine entscheidende Rolle. Im Wettbewerb sind diese Themen jedoch noch nicht angekommen, die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Kassen sind für Versicherte nicht transparent. Daher besteht kein wirklicher Anlass, in diesen Bereich zu investieren, mit Rückmeldungen wie Lob oder Beschwerden zu arbeiten.
Das würde sich rasant ändern, wenn wir in einen echten Qualitätswettbewerb einsteigen und für Transparenz auch bei diesen Punkten sorgen würden. Wie kann das gelingen? Wie können wir dafür sorgen, dass das, was Betroffene im Ernstfall als wichtig definieren, bereits vorher, bei der Kassenwahl transparent ist und für die Entscheidung aller Versicherten zugänglich gemacht wird? Aus unserer Sicht braucht es zwei Dinge: Zum einen gilt es, für die GKV relevante Kennzahlen zu definieren und die Kassen zur Veröffentlichung zu verpflichten. Das könnte zum Beispiel die Ablehnungsquote für bestimmte Leistungen sein, die Zahl der Widersprüche oder die Klageerfolgsquote. Diese Parameter gilt es nun mit Experten und Versicherten zu erarbeiten. Zum anderen sollten wir dazu übergehen, die Qualitätswahrnehmung und -erfahrung von Versicherten bei „ihrer“ Krankenkasse öffentlich zugänglich zu machen – etwa durch eine laufende GKV-weite Panel-Befragung, durchgeführt durch eine neutrale Instanz.
Diese Transparenz gibt es beim Preis bereits: Kassen müssen bei einer Veränderung des Beitragssatzes aktiv auf preiswertere Wettbewerber hinweisen. Warum nicht analog ein Hinweis, dass andere Kassen aus Versichertensicht besser sind? Nur wenn die genannten Kennzahlen und die Versicherten-Bewertungen ein ähnliches Gewicht haben, wie Preis oder Satzungsleistungen, wird ein Kassen-Wettbewerb um Qualität stimuliert, von dem am Ende die Versicherten profitieren. Ich erinnere mich gerne an das Motto eines Münchner Fachhändlers in meiner Straße: „Die Erinnerung an eine gute Qualität währt länger als die kurze Freude über den günstigen Preis“ – ist über seinem Tresen zu lesen.