Zielsetzung Wettbewerb
Hintergrund: Morbi-RSA Gutachten untersucht, wo der Finanzausgleich verbessert werden muss. Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick (23.10.2017)
Rund 70 Millionen Menschen sind in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung versichert, sie zahlen jährlich Beiträge in Höhe von etwa 200 Milliarden Euro. Diese Beiträge fließen in den Gesundheitsfonds – ein zentraler Geldtopf, aus dem die Finanzmittel an die einzelnen Krankenkassen verteilt werden. Wie diese Gelder verteilt werden, regelt seit 2009 der sogenannte Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Er soll sicherstellen, dass jede Krankenkasse zur Versorgung ihrer Versicherten genau die Mittel erhält, die sie benötigt. Was sich logisch anhört, ist in der Realität hochkompliziert. Dementsprechend wuchs die Kritik an diesem Verteilmechanismus in den vergangenen Jahren kontinuierlich. Der Vorwurf: Die Mechanik des Finanzausgleichs verzerrt den Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Auf lange Sicht führe dies zu einer schlechteren Versorgung der gesetzlich Versicherten. Im Dezember 2016 hat das Bundesministerium für Gesundheit daher dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt den Auftrag gegeben, die Wirkungsweise des Morbi-RSA genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Ergebnisse wurden am 19. Oktober in einer Kurzfassung veröffentlicht. Die Veröffentlichung der Langfassung wird in wenigen Wochen erwartet. Die Siemens-Betriebskrankenkasse SBK fasst die wichtigsten Punkte zusammen.
Wettbewerb unter den Kassen
Die Wissenschaftler des Beirats bestätigen, dass die Zielsetzung des Morbi-RSA die Vermeidung von Risikoselektion und der faire Wettbewerb unter den Kassen ist. Sie bestätigen weiterhin, dass in der aktuellen Kassenlandschaft ein Ungleichgewicht zwischen AOK und Knappschaft einerseits und den anderen Kassenarten andererseits besteht. Erstere erhalten aus dem Gesundheitsfonds mehr Geld, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen – Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen und Ersatzkassen im Durchschnitt weniger. Zudem bemängeln die Wissenschaftler eine regionale Marktkonzentration, die den Wettbewerb gefährden kann.
Um den Wettbewerb zu stärken, schlagen sie unter anderem zwei Maßnahmen vor:
Manipulationen im Morbi-RSA
Der Beirat sieht Belege dafür, dass einzelne Krankenkassen auf die Diagnosestellung vor allem bei den niedergelassenen Ärzten Einfluss nehmen. Denn: Nur wenn die Ärzte die „richtigen“ – also Morbi-RSA-relevanten – Diagnosen stellen, fließen auch Gelder aus dem Gesundheitsfonds. Der Beirat erachtet es deshalb für notwendig, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um solche Manipulationen soweit wie möglich zu verhindern. Eine dieser Maßnahmen ist die Einführung von Richtlinien, wie die Ärzte zukünftig die im Morbi-RSA relevanten Krankheiten erfassen und an die Kassen weiterleiten. Diese sogenannten ambulanten Kodierrichtlinien sollten in die Praxissoftware integriert werden. Jegliche Software müsste im Anschluss von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) geprüft und zertifiziert werden.
Krankheitsauswahl und Hochrisikopool
Aktuell erhalten die Krankenkassen ihre Gelder aus dem Gesundheitsfonds gestaffelt nach Geschlecht und Alter der Versicherten sowie bei Vorliegen einer von rund 80 ausgewählten Krankheiten. Hier schlägt der wissenschaftliche Beirat vor, von der Krankheitsauswahl auf ein so genanntes Vollmodell umzusteigen, bei dem alle Diagnosen berücksichtigt werden. Zusätzlich geht er hier auf einen weiteren Aspekt ein: Die aktuelle Wirkungsweise des Finanzausgleichs, wenn ein Versicherter an mehreren Krankheiten leidet (Multimorbidität). Das Gutachten bestätigt, dass die Krankenkassen gerade für Menschen mittleren Alters mit mehreren Diagnosen teilweise weniger Geld bekommen als sie für deren Behandlung benötigen und für ältere Menschen mehr Geld als notwendig. Dies führt zu einer Verzerrung bei der Finanzausstattung der Kassen. Der wissenschaftliche Beirat rät hier im ersten Schritt dazu, die Diagnosen (konkret: die HMGs / hierarchisierte Morbiditätsgruppen, in denen die einzelnen Diagnosegruppen zusammengefasst werden) bei der Berechnung der Zuweisungen mit dem Alter interagieren zu lassen, um mehr Passgenauigkeit zu erreichen.
Die Frage, ob die Versorgung von Patienten mit sehr teuren Behandlungskosten durch einen sogenannten Hochrisikopool besonders ausgeglichen werden soll, lässt der Beirat im Gutachten noch offen und empfiehlt eine weitere Analyse.
DMP-Pauschale
Im Jahr 2002 wurden im damaligen Finanzausgleich der Krankenkassen die Disease Management Programme (DMP) eingeführt. Seitdem bekommen Krankenkassen für die Betreuung der Versicherten, die in diese Programme eingeschrieben sind, eine gesonderte, höhere Zuweisung. Im Gegenzug sind sie verpflichtet, den Versicherten eine besondere Unterstützung zukommen zu lassen. In der Regel sind dies besondere Informationsangebote oder auch Schulungen. DMP gibt es für ausgewählte chronische Krankheiten wie Asthma, Diabetes oder Brustkrebs. Diese Krankheiten erhalten damit im Finanzausgleich der Krankenkassen eine Sonderstellung. Der Beirat plädiert dafür, diese Sonderstellung abzuschaffen und die DMP-Pauschale zu streichen.
Erwerbsminderungsgruppen
Neben den versichertenbezogenen Merkmalen wie Alter, Geschlecht und Morbidität gibt es noch weitere Risikogruppen, für die Krankenkassen Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten: nämlich diejenigen, die den Erwerbsminderungsstatus der Versicherten abbilden (sog. EMGs). Das bedeutet: Kassen bekommen Geld aus dem Gesundheitsfonds, wenn ein Versicherter eine Erwerbsminderungsrente bezieht – unabhängig von sonstigen Erkrankungen des Versicherten. Im Rahmen des Gutachtens stellen Experten fest, dass derzeit junge Erwerbsminderungsrentner unterdeckt sind (die Kasse für sie also zu wenig Zuweisungen erhält), Erwerbsminderungsrentner ohne chronische Krankheiten jedoch überdeckt werden (die Kassen also mehr Zuweisungen erhalten, als sie für die Versorgung benötigen). Die Wissenschaftler schlagen vor, den EMG-Status der Versicherten zukünftig nicht mehr als eigenständiges Kriterium für eine Zuweisung heranzuziehen, sondern als Merkmal zu verwenden, um den Schweregrad einer Krankheit zu beurteilen. Im ersten Schritt sollte den Experten zufolge auf jeden Fall eine bessere Altersabgrenzung der einzelnen Erwerbsminderungsgruppen vorgenommen werden.
Regionalkomponente
Die Versorgung der Versicherten ist innerhalb Deutschlands unterschiedlich teuer. Gerade in Ballungszentren, wo es beispielsweise Universitätskliniken und eine hohe Facharztdichte gibt, zahlen die Krankenkassen für die Behandlung deutlich mehr als auf dem Land. Der Beirat bestätigt in seinem Gutachten, dass der Morbi-RSA die regionalen Kostenunterschiede nicht ausreichend ausgleicht. Dies führt nach Ansicht der Wissenschaftler zu Wettbewerbsverzerrungen. Lösungsvorschläge zu dieser Problematik werden in einem Folgegutachten untersucht, das bis Ende April nächsten Jahres veröffentlicht werden soll.Weitergehende Informationen zur Arbeit des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs sowie den Download der Summary des Sondergutachtens finden Sie hier:
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