Daten im Gesundheitswesen – zwischen Faxpapier und Supercomputern

Nachbericht: In der Online-Diskussionsveranstaltung haben vier Expert*innen beleuchtet, wo das deutsche Gesundheitssystem bei Datenaustausch und KI steht. (18.05.2021)

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Die Mehrheit der Deutschen steht dem Einsatz von Algorithmen im Gesundheitswesen zurückhaltend bis kritisch gegenüber, wie eine aktuelle YouGov-Studie im Auftrag der SBK zeigt (alle Ergebnisse der Studie finden Sie hier). Auch die vier Expert*innen, die auf Einladung der SBK im Rahmen einer Online-Diskussionsrunde über den aktuellen Stand des Einsatzes von Daten im Gesundheitswesen debattierten, sehen Verbesserungspotenzial.

Dass der Austausch von medizinischen Informationen im deutschen Gesundheitswesen zwischen den Beteiligten nicht rundläuft, bemerken Patientinnen und Patienten nicht erst seit der Coronapandemie. Claudia Neumann, die in jungen Jahren mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert wurde, kann davon ein Lied singen. Auch im Jahr 2021 läuft sie noch immer mit Papierstapeln von Arzt zu Arzt.

Christine Ott, Fachbereichsleiterin für Datenmanagement bei der SBK, sieht sich täglich mit Hindernisse im Datenfluss konfrontiert. Ihr Ziel ist es, Versicherte auf Basis von gesundheitsbezogenen Daten optimal zu beraten und in schwierigen Situationen zu begleiten. Viel zu langsame Datenflüsse innerhalb des Gesundheitssystems und eine schlechte Datenqualität erschweren diese Arbeit erheblich. Sie fordert: „Damit wir Krankenkassen unserer Rolle als Begleiter der Versicherten gerecht werden können, brauchen wir tagesaktuelle Diagnosedaten unserer Versicherten und möglichst Zugriff auf alle relevanten medizinischen Informationen in der elektronischen Patientenakte, sofern die Versicherten das möchten. Auch eingeschränkte Datennutzungsrechte erschweren teilweise eine gute Beratung. Wir stehen für das solidarische Gesundheitssystem und tragen dafür Sorge, dass alle Versicherten von den Vorzügen datengestützter Beratung und KI jederzeit profitieren können, wenn sie sich dafür entscheiden, der Kasse ein Nutzungsrecht für ihre Daten zu geben. Dennoch ist unser Zugang zu schnellen gesundheitsbezogenen Daten in Teilen deutlich eingeschränkt. Wir brauchen eine weitsichtige Strategie sowie einen Verhaltenskodex für den Umgang mit Gesundheitsdaten. Diese müssen dafür Sorge tragen, dass die Errungenschaften datenbasierter KI den Versicherten zugutekommen. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf bei der Politik.“

Notwendigkeit von Regeln für den Umgang mit Daten innerhalb des solidarischen
Gesundheitssystems

Vor dem Hintergrund der Herausforderungen von Datenflüssen und Zugriffsrechten muten die vielen Projekte, die sich heute mit Big Data und künstlicher Intelligenz in der Medizin beschäftigen, wie Geschichten aus einer anderen Welt an. Dabei werden schon längst unzählige Algorithmen zu verschiedenen Zielen mit gesundheitsbezogenen Daten trainiert. Der Spezialist für künstliche Intelligenz und Open-Source-Innovationen in der Medizin, Bart de Witte, sieht in Digitalisierung und KI riesige Chancen für eine bessere Medizin. Gleichzeitig mahnt er mit wachsender Dringlichkeit vor der sich abzeichnenden Entwicklung der Privatisierung von medizinischem Wissen in Form von „vertrauenswürdigen“ geschlossenen Algorithmen und der Monopolisierung von gesundheitsbezogenen Daten und KI in den Händen einiger weniger Konzerne: „Wir diskutieren viel zu viel über Datenschutz und zu wenig darüber, was wir als Gesellschaft mit anonymisierten Daten erreichen wollen. Wenn medizinisches Wissen in naher Zukunft per Knopfdruck generiert werden kann, stellt sich die dringende Frage, wer das Recht zur Nutzung des so extrahierten Wissens hat: Sollte es Gemeingut im Sinne des Open-Source-Ansatzes sein? Oder erlauben wir, dass Unternehmen dieses Wissen als ihr geistiges Eigentum schützen können, wie wir das bereits aus der Pharmaindustrie kennen? Die Kommerzialisierung von medizinischen Daten und KI widerspricht der Vorstellung, dass die Ergebnisse von Datenverarbeitung eine natürlich vorkommende Form von Sozialwissen sind und eben keine kommerziell motivierte Form der Extraktion, die besondere wirtschaftliche und staatliche Interessen fördert. Der Datenkapitalismus in der Medizin gefährdet das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem. Ähnliche Entwicklungen kennen wir bereits von der Privatisierung von Wasser oder Saatgut.“

Erste Bemühungen der Politik um einheitliche Regularien für den Umgang mit gesundheitsbezogenen Daten erkennt Professorin Dr. Alexandra Jorzig, Fachanwältin für Medizinrecht und Professorin für Gesundheitsrecht an der IB Hochschule Berlin: „Ich sehe, dass die Politik in Deutschland und auch auf europäischer Ebene daran arbeitet, die Bedingungen so zu gestalten, dass hier ein Datenpool entsteht, der ein Gegengewicht zu den Datenmonopolen großer
Konzerne werden kann. Dieser Prozess ist bisher aber viel zu langsam. KI wird schon in naher Zukunft Bestandteil in der Diagnostik sein. Um eine Zweiklassenmedizin in diesem Bereich zu verhindern, ist es entscheidend, wer dann über die entsprechenden Daten verfügt, um die KI trainieren zu können. Jetzt ist also der Moment zu handeln, denn Konzerne schaffen hier gerade Fakten.“ Eine mögliche Lösung für einen Zugang zu KI-basierter Diagnostik frei von pekuniären Interessen sieht Prof. Jorzig in unterschiedlichen Modellen. Es könnten quasi Treuhänder von Daten eingerichtet werden. Auch Krankenkassen könnten diese Rolle spielen, da sie ohnehin nah an den Patienten – ihren Versicherten – sind. „Fakt ist, dass wir eine inklusive Daten- und KI-Strategie in Deutschland brauchen.“

Interessen der Patienten müssen in einer Datenstrategie im Mittelpunkt stehen 

Für Claudia Neumann liegen die dringenden nächsten Schritte in konkreten Verbesserungen für Patienten: „Ich wünsche mir, dass zunächst die Realität der Patientinnen und Patienten in den Blick genommen wird. Schon banale Dinge wie ein schneller Datenaustausch zwischen Ärzten, Erinnerungen an Vorsorgetermine oder mehr Transparenz über Befunde und Diagnosen für uns Patienten wären ein großer Schritt.“

Auch Christine Ott sieht in einer künftigen Datenstrategie für das Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle für die Interessen von Patientinnen und Patienten. Denn ihnen obliegt die Entscheidung, ob und mit wem sie ihre gesundheitsbezogenen Daten teilen. „Um diese Entscheidungen informiert zu treffen, muss im Rahmen der digitalen Gesundheitskompetenzvermittlung auch Datenkompetenz vermittelt werden, also zum Beispiel das Wissen darüber, wie das Teilen von gesundheitsbezogenen Daten auf persönlicher wie gesellschaftlicher Ebene nützlich werden kann. Gleichzeitig braucht es auch Wissen darüber, welches Interesse unterschiedliche Akteure an Daten haben und welche (wirtschaftliche) Macht in diesen Daten liegt.“

Bart de Witte ergänzt: „Die Aufklärung der Menschen über die Bedeutung ihrer Entscheidung darüber, wem sie ihre Gesundheitsdaten überlassen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Gleichzeitig müssen Regeln so gestaltet werden, dass Daten und Datenderivate nicht später doch an andere Akteure indirekt verkauft werden können. Das ist schon unzählige Male geschehen, zum Beispiel beim Verkauf von mySugr an Roche oder Fitbit an Google.“

So zieht die Runde am Ende einer lebhaften Diskussion ein fast einmütiges Fazit: Die Politik ist gefordert, eine Datenstrategie zu erarbeiten und durchzusetzen, welche die Basis dafür bildet, dass alle Menschen, sofern sie das möchten, von einfachem Datenaustausch genauso profitieren, wie von intelligenter datengestützter Beratung und Medizin. Um in diesem System mündig zu agieren, braucht es auch Konzepte zur Förderung digitaler Gesundheits-, Daten- und KI-Kompetenz. Die Daten selbst sind als Eigentum der Gemeinschaft zu schützen und zu deren Wohl im Rahmen eines solidarischen und inklusiven Gesundheitssystems einzusetzen.

Claudia Liane Neumann

Claudia Liane Neumann ist Trägerin des Ehrenfelix der Felix Burda Stiftung, mit dem sie für ihr Engagement für junge Krebspatient*innen ausgezeichnet wurde. Für die Stiftung ist sie auch als Patient Advocate aktiv. Darüber hinaus ist sie aktives Mitglied der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs. 

Christine Ott

Christine Ott ist Fachbereichsleiterin für Datenmanagement bei der SBK und kennt die Hand-lungsfelder sowohl durch ihre Führung von operativen und konzeptionellen Teams, wie auch durch ihre Gremienarbeit u. a. beim GKV SpiBU und in Softwarehäusern.

Prof. Dr. Alexandra Jorzig

Prof. Dr. Alexandra Jorzig ist Fachanwältin für Medizinrecht und Professorin für Gesundheits-recht an der IB Hochschule Berlin. Sie lehrt als Dozentin an der Deutschen Anwaltakademie, ist Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht e.V. (DGMR) und wissen-schaftliche Beirätin der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin e.V.

Bart de Witte

Bart de Witte ist einer der führenden europäischen Experten für künstliche Intelligenz in der Gesundheitsversorgung und Open-Source-Innovationen. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Stiftung Hippo AI, die sich für KI in der Medizin als Gemeingut einsetzt.

Sehen Sie hier die Aufzeichnung der Veranstaltung:

Die hier zur Verfügung gestellten Inhalte dürfen, unter Angabe der Quelle SBK Siemens-Betriebskrankenkasse, veröffentlicht werden.

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