Vermittlung von Gesundheitskompetenz nicht im Gießkannenprinzip
Interview: Dr. Gabriele Gonschor, Fachbereichsleiterin für innovative Präventions- und Versorgungsangebote, plädiert für individualisierte Beratung. (04.03.2021)
Die
Frau Gonschor, für die SBK-Studie zur Gesundheitskompetenz haben Sie Ihren Fokus auf Menschen mit chronischer oder schwerer Erkrankung gelegt. Ist Gesundheitskompetenz nicht für alle Menschen wichtig?
Doch natürlich! Alle müssen selbstbestimmt und informiert Entscheidungen für ihre Gesundheit treffen können. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Menschen umfassende Aufklärung erhalten und sich entsprechendes Wissen auch selbst aneignen können. Dabei spielen auch digitale Medien und Angebote eine immer größere Rolle. Wir als Kassen stellen uns jedoch zunächst die Frage: Wo setzen wir als Erstes an? Dabei ist meine Überzeugung, dass Angebote immer auf die Situation der Versicherten abgestimmt sein müssen. Hat eine Versicherte zum Beispiel gerade eine Diabetes-Diagnose erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich nun für passende Informationsangebote interessiert, sehr groß. Für wenig vielversprechend halte ich dagegen, Versicherte nach dem Gießkannenprinzip ganz allgemein mit Informationen zu bespielen. Daher verfolgen wir mit dieser Befragung zunächst das Ziel, den Status quo der Gesundheitskompetenzförderung bei Menschen mit entsprechenden Erkrankungen zu beleuchten.
Aus der SBK-Studie leiten Sie ab, dass Angebote zur Aufklärung die Menschen mit Erkrankungen nicht in ausreichendem Maße erreichen. Woran machen Sie das fest?
In unserer Befragung geben 43 Prozent der Befragten mit schwerer oder chronischer Erkrankung an, hilfreiche Angebote und Informationen zum besseren Umgang mit ihrer Erkrankung erhalten zu haben. Das ist nicht mal jeder zweite. Mit diesem Stand sollten wir uns nicht zufriedengeben. Denn diese Menschen stehen häufig vor wichtigen Entscheidungen, zum Beispiel über Therapien, Hilfsmittel oder andere geeignete Unterstützung. Diese Entscheidungen können weitreichende Folgen für die Lebensqualität der Patienten haben und sollten natürlich auf Basis guter Informationen getroffen werden.
Zu denken gibt mir auch, dass 22 Prozent der Menschen mit Erkrankung zwar Angebote erhalten haben, diese aber nicht als hilfreich empfanden. Nach meinem Dafürhalten müssen solche Zahlen alle an der Aufklärung von Patienten beteiligten Institutionen aufhorchen lassen – das sage ich auch durchaus selbstkritisch. Regelmäßiges Feedback der Versicherten zu Aufklärungsangeboten sollte standardmäßig eingeholt und in deren Weiterentwicklung einfließen, damit sichergestellt ist, dass sie den Betroffenen auch weiterhelfen.
Die wichtigste Frage im Kontext der Gesundheitskompetenz ist in meinen Augen aber: Sehen sich Patienten in der Lage, selbstbestimmt und informiert Entscheidungen für ihre Gesundheit zu treffen. Diese Frage bejahen in unserer Befragung immerhin 88 Prozent der Erkrankten – 45 Prozent davon allerdings nur mit Einschränkung. Will man es positiv sehen, ist das Ziel der Gesundheitskompetenzförderung bei einer deutlichen Mehrheit zumindest in Teilen erreicht. Weniger positiv gestimmt, könnte man auch sagen: Hier gibt es einen Widerspruch zwischen der eigenen Einschätzung und den Aussagen vieler, dass sie sich gerade mit digitalen Gesundheitsangeboten nicht besonders wohlfühlen und der Verlässlichkeit von Quellen keine Beachtung schenken.
Eine Ihrer Forderungen ist, Krankenkassen auf Basis aktueller Diagnosedaten die Möglichkeit zur zielgerichteten Ansprache von Patienten im Krankheitsfall zu geben. Welche Vorteile hätte das für die Patienten?
Bei den Krankenkassen laufen über die Abrechnungsdaten die Krankengeschichten der Versicherten über die Sektorengrenzen hinweg zusammen. Diese Daten zur zielgerichteten Information und Beratung der Patienten zu nutzen – natürlich nur mit Einverständnis der Versicherten –, ist ein großer Schritt hin zu einer personalisierten und patientenzentrierten Gesundheitsaufklärung, die genau dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Wichtig hierbei ist: Unsere Aufklärungsarbeit bezieht sich dabei weniger auf die medizinische Information, sondern zielt vor allem darauf ab, den Versicherten zu helfen, die richtigen Anlaufstellen und Informationen zu finden, auf Alternativen, zum Beispiel digitaler Art, aufmerksam zu machen, ihn in seinem Sinne durch den Versorgungsprozess zu begleiten. Diese Vision scheitert leider aktuell noch daran, dass die Krankenkassen die Abrechnungsdaten aus den Arztpraxen erst mit sechs bis neun Monaten Zeitverzug erhalten. Daher lautet schon lange eine unserer Forderungen, dass wir Krankenkassen taggleich die Abrechnungsdaten aus den Arztpraxen übermittelt bekommen. Dazu bieten die TI und ihre Anwendungen nun die Möglichkeiten. Für eine taggleiche Übermittlung von Diagnosedaten ließe sich beispielsweise ganz unkompliziert der KIM-Dienst nutzen.
Der § 20k SGB V verpflichtet die Krankenkassen, Angebote zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz anzubieten. Wie geht die SBK damit um?
Der Paragraph greift ein wichtiges gesamtgesellschaftliches Problem auf: Wie gelingt es uns, möglichst alle Menschen angesichts wachsender digitaler Möglichkeiten in der Gesundheitsversorgung, -information und -prävention mitzunehmen? Nach unserer Überzeugung kann man digitale Gesundheitskompetenz aber nicht losgelöst betrachten. Sie ist ein Teil der Gesundheitskompetenz und es braucht entsprechend ganzheitliche Angebote. Die Bedürfnisse der Menschen bei der Gesundheitskompetenzförderung sind aber höchst unterschiedlich – abhängig von ihrer Lebens- und Gesundheitssituation genauso wie von ihrem individuellen Wissensstand. Aufklärungsangebote nach dem Gießkannenprinzip funktionieren nicht. Vor diesem Hintergrund sehen wir die Lösung wie beschrieben in einer personalisierten und patientenzentrierten Gesundheitsaufklärung, die der Lebenssituation der Versicherten Rechnung trägt.
Darüber hinaus ist die Förderung (digitaler) Gesundheitskompetenz nach unserer Überzeugung eine gesellschaftliche Aufgabe, die einer übergeordneten Strategie bedarf. Daher haben wir schon im vergangenen Jahr eine
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