DiGA im Fokus (4): Wie divers sind DiGA?

Hintergrund: DiGA gelten als die Innovation im Gesundheitswesen. In unserer Reihe nimmt SBK-Expertin Christina Bernards sie genauer unter die Lupe (12.01.2022)

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Die Menschen sind nicht gleich: Alter, Geschlecht, Lebenssituation, Gesundheitszustand, Herkunft oder Charakter sind nur einige der Merkmale, die unsere Bedürfnisse an die medizinische Versorgung beeinflussen. Dieser Diversität der Menschen wird in der Versorgung nicht immer ausreichend Rechnung getragen. Ein typisches Beispiel für Unterschiede bei der Diagnosestellung ist der Herzinfarkt, der bei Männern andere Symptome hat als bei Frauen. Da der männliche Herzinfarkt besser erforscht ist, bleiben Herzinfarkte bei Frauen häufig länger unentdeckt. 

Mit den digitalen Gesundheitsanwendungen ist nun eine Versorgungsform auf dem Markt, die Individualität in der Theorie leichter adressieren kann als die analoge Versorgung. Die Anwendung auf dem eigenen Handy kann individuelle Daten leicht erfassen. Die Daten, mit denen die DiGA trainiert werden, können repräsentativ zur Bevölkerung in die Anwendung eingespeist werden. So können DiGA Angebote für unterschiedliche Krankheits- und Lebensphasen, Wissensstände oder Geschlechter machen. Kurz, DiGA können ein wichtiger Schritt zu mehr Individualität in Therapie und Prävention sein.

Zu wenige DiGA nutzen die Chance für mehr Diversität

In der digitalisierten Gesellschaft bilden Soft- und Hardware die grundlegende Infrastruktur. Deshalb ist es wichtig, dass die Bedürfnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen bereits in der Entwicklung miteinfließen. Das ist heute noch nicht der Fall. Frauen sind zum Beispiel immer noch als Gründerinnen oder Programmiererinnen in der Digitalwirtschaft unterrepräsentiert. Bei der Entwicklung von Anwendungen fehlt somit häufig die weibliche Perspektive. Wenn aber Anwendungen wie DiGA an den Bedürfnissen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vorbei entwickelt werden, ist das ein gesellschafts- und im Falle der DiGA gesundheitspolitischer Rückschritt.

Leider nutzen die meisten DiGA die Chance zu mehr Diversität, die digitale Möglichkeiten bieten, nach meiner Wahrnehmung kaum. Zu wenige DiGA erfragen in ausreichendem Maße die relevanten Merkmale ihrer Nutzerinnen und Nutzer, wie etwa das Stadium der Erkrankung oder welche körperlichen Einschränkungen vorliegen. Diese Information ist aber entscheidend, um zielgerichtete Therapievorschläge zu machen. Mit der Abfrage nach körperlichen Einschränkungen könnte die Kommunikation zwischen Anwendung und Nutzer*in gesteuert werden, beispielsweise indem die App bei starker Sehschwäche spricht, statt Erklärungen über Text anzubieten. Auch bei Anpassungen der DiGA an die unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse von Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren und Menschen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen nutzen die DiGA die digitalen Möglichkeiten nicht aus.

Blackbox DiGA-Daten

Ein weiterer Aspekt in der Frage nach der Diversität von DiGA sind die Daten, mit denen viele DiGA trainiert werden. Auf Basis dieser Daten „lernen“ die Anwendungen beispielsweise, welche Angebote den Nutzerinnen und Nutzern zu welchem Zeitpunkt gemacht werden. Nutzt die DiGA künstliche Intelligenz (KI), kann die Anwendung in der Interaktion mit ihren Anwenderinnen und Anwendern auch dazulernen und das Angebot so stetig anpassen. Doch eine KI kann nur so gut sein wie die Daten, auf denen sie beruht. Sind die Daten in eine Richtung einseitig, zieht die App unter Umständen falsche Schlüsse für das beste Therapieangebot. So ist beispielsweise bekannt, dass in vielen medizinischen Datensätzen Männer dominieren. Im Eingangsbeispiel zum Herzinfarkt haben wir gesehen, dass es unter Umständen lebensbedrohlich sein kann, den Unterschieden zwischen den Geschlechtern in der Medizin nicht Rechnung zu tragen.

Das zeigt, wie wichtig es ist, dass die Daten, auf denen DiGA beruhen, die Vielfalt der Menschen berücksichtigen, die sie anwenden. Ob dies gegeben ist oder nicht, ist unklar. Bisher gibt es keine Transparenz darüber, wie gut beziehungsweise wie divers die Daten sind, die die DiGA-Hersteller nutzen. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf: Die Blackbox DiGA-Daten muss geöffnet werden.

Dialog über Notwendigkeit und Grenzen der Individualisierung in digitalen Versorgungsformen nötig

Mein heutiger Artikel ist ein Plädoyer dafür, die DiGA als Chance für eine bedürfnisgerechtere Versorgung zu nutzen. Dazu habe ich zwei aus meiner Sicht umsetzbare Ansatzpunkte aufgezeigt:

  1. Mehr individuelle Merkmale der Nutzerinnen und Nutzer abfragen.
  2. Transparenz über die Diversität der Datenbasis der DiGA herstellen.  

Klar ist aber auch: Digitale Gesundheitsanwendungen haben neben der einfachen Abfrage von Merkmalen noch deutlich weitergehende Möglichkeiten, die Individualität Ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu erfassen. Vom Fitnesslevel über die Herzfrequenz und die Anzahl der Stunden auf der Couch bis hin zur Anzahl der sozialen Kontakte kann eine App fast alles erfassen. Bei so vielen Möglichkeiten für eine individuelle Datenbasis kann einen ein mulmiges Gefühl beschleichen. Die Grenze zwischen Informationen, die für eine bessere Versorgung wichtig sind, und maßlosem Datensammeln ist schmal. Für die Frage, wo sie verläuft, brauchen wir transparente, gut nachvollziehbare Regeln. Diese Regeln müssen einen guten Ausgleich zwischen dem Recht auf bestmögliche Versorgung und dem Datenschutz finden.

Mit diesem Artikel endet meine Reihe zu digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen. Sie sind eine kleine Revolution in unserem Gesundheitssystem. Nun gilt es, die Weichen so zu stellen, dass sie langfristig echte Verbesserungen im Sinne der Menschen, die sie nutzen und brauchen, bringen.

Die hier zur Verfügung gestellten Inhalte dürfen, unter Angabe der Quelle SBK Siemens-Betriebskrankenkasse, veröffentlicht werden.

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