Mütter von Säuglingen und Kleinkindern: Fürsorge auf Kosten der Selbstfürsorge?

Analyse: Viele frischgebackene Mütter mit psychischen Problemen scheinen Schwierigkeiten zu haben, ihre Therapie fortzusetzen (20.07.2022)

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Mütter von Säuglingen und Kleinkindern, die aufgrund einer Depression in Therapie sind, führen ihre Behandlung nach der Entbindung signifikant seltener fort als Frauen in einer Vergleichsgruppe ohne Kleinkind. Auch haben die Neu-Mütter weniger Kontakte mit psychologischen oder psychiatrischen Fachärzt*innen. Zu diesem Ergebnis kommt eine umfassende Auswertung des WIG2 Instituts von 116.532 anonymisierten Datensätzen von Versicherten. 58.266 Datensätze von Eltern, die in den letzten vier Jahren ein Kind bekommen haben (im Folgenden Gruppe der „Eltern“, „Mütter“ oder „Väter“ genannt), wurden einer ebenso großen Vergleichsgruppe von Versicherten, die in den letzten Jahren kein Kind bekommen haben (im Folgenden Gruppe der „Nicht-Eltern“, „Nicht-Mütter“ oder „Nicht-Väter“ genannt) gegenübergestellt. Auftraggeber der Studie ist die SBK Siemens-Betriebskrankenkasse.

Es gibt einen deutlichen Unterschied in der Therapieinanspruchnahme zwischen der Gruppe der Mütter und der Nicht-Mütter

Der Vergleich zwischen Müttern nach einer Geburt mit Frauen, die in den letzten Jahren kein Kind bekommen haben, zeigt am Beispiel Depression: Nach der Geburt nehmen die Frauen seltener psychotherapeutische Maßnahmen in Anspruch – und zwar unabhängig davon, ob die Frauen vor der Entbindung noch ohne Diagnose Depression waren, schon eine Diagnose hatten oder sich bereits in Behandlung befanden. Hier zwei konkrete Beispiele:

1. Mütter mit Baby führen ihre Therapie häufiger nicht fort

Stellt man die Gruppe der Mütter, die vor Geburt eines Kindes aufgrund einer Depression in Behandlung waren (n=2.166), der entsprechenden Gruppe der Nicht-Mütter (n=2.038) gegenüber, zeigt sich: Im Jahr nach der Entbindung (zweites Beobachtungsjahr) sind von den Müttern in Therapie noch 50 Prozent weiter in Therapie. In der Vergleichsgruppe der Nicht-Mütter sind es noch 70 Prozent im zweiten Jahr. Nach der Entbindung beendet also rund die Hälfte der Mütter die fachärztliche Behandlung ihrer Depression. Bei den Frauen ohne Entbindung ist es weniger als ein Drittel.

Dieser Unterschied in der Fortführung einer Therapie zwischen Frauen mit und ohne Säugling lässt sich auch anhand der Anzahl der Facharztkontakte deutlich sehen. Zu Beginn der Beobachtung (in der Gruppe der Mütter also im Jahr vor der Entbindung) hat die Gruppe der werdenden Mütter im Durchschnitt neun Kontakte zu Psycholog*innen oder Psychiater*innen, die Frauen in der Vergleichsgruppe haben 10,6 Facharztkontakte im Jahr. Im Jahr der Entbindung gehen die Kontakte der Säuglingsmütter zu den entsprechenden Fachärzt*innen um die Hälfte auf im Schnitt 4,7 zurück und steigen auch in den folgenden beiden Jahren nicht mehr an. Bei den Frauen ohne Entbindung ist ein langsamer Rückgang der Kontakte von 10,6 auf sechs Facharztkontakte über vier Jahre zu beobachten.

2. Frauen mit Depression beginnen seltener eine Therapie, wenn sie ein Baby haben

In der Gruppe der Mütter, die vor der Geburt ihres Kindes zwar die Diagnose Depressionen haben, sich aber nicht in Behandlung befinden (n=3.719), begeben sich 5,6 Prozent im Jahr der Entbindung in Therapie. In der passenden Vergleichsgruppe der Nicht-Mütter (n=4.189) sind im zweiten Beobachtungsjahr 11,1 Prozent in Behandlung. Doppelt so viele Nicht-Mütter wie Neu-Mütter, die bereits eine Depression diagnostiziert haben, beginnen also eine Therapie zwischen dem ersten und zweiten Beobachtungsjahr.

Und die Väter? Zwischen den Gruppen der Väter und der Nicht-Väter lassen sich keine signifikanten Unterschiede im Therapieverhalten sehen.

Ursachen unklar: Daten verlangen nach weiterer Forschung

Die beschriebenen Ergebnisse der Datenanalyse zeigen: Die Gruppe der Mütter nutzt weniger psychotherapeutische Therapien als die Gruppe der Nicht-Mütter. Die Daten geben jedoch keine Hinweise auf die Ursachen dieser Unterschiede. Es gibt mindestens zwei Erklärungsmuster: Zum einen können die Daten einen Hinweis darauf geben, dass Mütter von Kleinkindern nicht den nötigen Freiraum finden, sich ausreichend um ihre (psychische) Gesundheit zu kümmern. Zum anderen könnte der Rückgang der Nutzung von Therapieangeboten dadurch erklärt werden, dass sich das Baby positiv auf die psychische Gesundheit der Mütter auswirkt. Vermutlich sind beide Erklärungsmuster – je nach Fall – ein Teil der Wahrheit. Klarheit kann hier nur weitere Forschung schaffen.

Schwieriger Zugang zu Psychotherapie könnte die Versorgung von Neu-Müttern gefährden

Ein Blick in die Versorgungsrealität zeigt: Für Mütter, die sich um Säuglinge oder Kleinkinder kümmern, ist es schwerer, bei psychischen Problemen eine Therapie zu beginnen. In vielen Regionen gibt es einen Mangel an Therapieplätzen. Das führt vielerorts dazu, dass allein die Organisation eines Therapieplatzes mit einigem Engagement verbunden ist. Terminangebote sind häufig unflexibel, was mit dem eng getakteten Alltag mit Kleinkindern kollidiert. Insbesondere im ländlichen Raum sind Therapien oftmals auch mit längeren Fahrtzeiten verbunden.

„Legt man die Versorgungsrealität in der Psychotherapie mit unseren Datenanalysen übereinander, ergeben sich Ansatzpunkte für die Annahme, dass einige Mütter von Säuglingen oder Kleinkindern in psychotherapeutischer Betreuung durch das Raster fallen“, sagt J.-Prof. Dr. Dennis Häckl, Geschäftsführer des WIG2 Institutes. „Das kann unter Umständen gravierende Auswirkungen für die Frauen sowie deren Familien haben. Weitere Forschung zur Ursache der Unterschiede in der Inanspruchnahme von Therapie zwischen der Gruppe der Mütter und der Nicht-Mütter ist daher wünschenswert. Insbesondere der deutliche Rückgang von Therapien bei Frauen, die bereits vor Entbindung an Depressionen litten, bedarf weiterer Aufmerksamkeit.“

Schwieriger Zugang zu Psychotherapie stellt alle in Fürsorge gebundenen Menschen vor Probleme

Haben Mütter von Säuglingen und Kleinkindern häufiger Probleme, medizinische Hilfe bei Depressionen in Anspruch zu nehmen? Lässt sich die These bestätigen, müssen für diese Gruppe praktikable Lösungen gefunden werden. Diese sollten darauf abzielen, den Zugang zu Psychotherapie niederschwelliger zu gestalten. Dazu zählt zum einen natürlich ein für jede Region bedarfsgerechtes Angebot an Psychotherapieplätzen. Als weitere Maßnahme können Videosprechstunden ausgebaut werden. Diese digitalen Sprechstunden ermöglichen eine Therapie ohne aufwendige Anfahrt. Sie können in Ausnahmefällen auch ohne Betreuungsperson für das Baby durchgeführt werden. Auch flexiblere Sprechzeiten, die insbesondere Sprechstunden in den Randzeiten anbieten, tragen zur Lösung bei.

Von solchen Maßnahmen würden nicht nur Mütter kleiner Kinder, sondern auch pflegende Angehörige profitieren. Auch diese Gruppe steht aufgrund der intensiven Fürsorge für andere vor ähnlichen Herausforderungen, wenn sie eine zeitaufwendigere Therapie wahrnehmen müssen.

Informationen zur Datenanalyse

Die hier vorgestellten Ergebnisse beruhen auf einer Analyse von 116.532 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten anonymisierten Datensätzen von Versicherten. Es wurde zwei Gruppen gebildet: 58.266 Datensätze stammen von Eltern von Kindern im Alter von 0 bis 4 Jahren. Darunter 40.575 Mütter und 17.691 Väter. Mütter und Väter wurden anhand einer kodierten Geburt oder eines familienversicherten Kindes identifiziert. Um mögliche Effekte des Familienzuwachses auf das Therapieverhalten zu erkennen, erfolgte der Datenaufgriff im Jahr vor der Geburt. Die Vergleichsgruppe ist in Bezug auf die Faktoren „Alter“, „Geschlecht“, „Anteil mit psychiatrischer Erkrankung“ und „Anteil in psychiatrischer Behandlung“ zum Zeitpunkt des Aufgriffs identisch. Alle Analysen sind signifikant.

Die Analyse wurde vom WIG2 Institut (www.wig2.de) im Auftrag der Siemens-Betriebskrankenkasse durchgeführt.

Daten helfen Unterschiede in der Versorgung zu erkennen und zu verstehen

Die hier vorgestellten Ergebnisse beruhen auf einer umfassenden Datenanalyse. Sie ist ein Beispiel dafür, wie strukturiert gesammelte und aufbereitete Daten helfen können, Auffälligkeiten in der Versorgung zu erkennen. Gleichzeitig zeigt sie aber auch auf, wo Daten fehlen: Zwar sehen wir Auffälligkeiten zwischen der Forschungs- und der Vergleichsgruppe - valide Aussagen über die Ursachen dieser Auffälligkeiten zu treffen ist nur eingeschränkt möglich. Diese sind jedoch nötig, um zielgerichtete Verbesserungsprozesse anzustoßen. Um Ursachenforschung zu betreiben, brauchen wir bessere Daten.

Damit Daten in Zukunft die Versorgung noch besser zum Positiven hin verändern können, setzt sich die SBK für einen besseren uns sicheren Austausch von Daten im Gesundheitswesen ein.

Die hier zur Verfügung gestellten Inhalte dürfen, unter Angabe der Quelle SBK Siemens-Betriebskrankenkasse, veröffentlicht werden.

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