Wie haben sich Ein- und Ausgaben in den letzten Jahren entwickelt?
In den letzten Jahren hat sich insbesondere auf der Ausgabenseite eine strukturelle Deckungslücke manifestiert. Durch die gute Konjunktur wurde diese Entwicklung in den letzten Jahren gut kaschiert. Auch wenn die Konjunktur durch Corona leicht verloren hat, steigen die Ausgaben jedoch weiterhin überproportional.
Wie groß ist denn die Finanzlücke, die bei den Kassen entsteht?
Aktuell geht das Bundesgesundheitsministerium von einem Defizit von 17 Mrd. Euro aus. Experten warnen jedoch bereits jetzt vor einem Defizit von bis zu 25 Mrd. Ein aktuelles Gutachten des IGES-Instituts geht bis 2025 von einem Rekorddefizit von mehr als 27 Mrd. Euro aus.
Was waren die auffälligsten Entwicklungen 2021?
Insgesamt sind die Leistungsausgaben im Jahr 2021 wieder deutlich gestiegen von 3,6% auf 5,8%. Nach den endgültigen Jahresrechnungsergebnissen für 2021 erzielten die gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr ein Defizit von 6,7 Mrd. Euro.
2021 gab es wie schon 2020 deutlich weniger Krankenhaus-Behandlungen als 2019. Trotzdem sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen im Krankenhaus-Bereich deutlich gestiegen. Dies hat vor allem zwei Ursachen: Durch die Corona-Reglungen wurden die Einnahmeverluste für die Krankenhäuser durch Kassenzuschüsse ausgeglichen. Hinzu kommen die gestiegenen Ausgaben für Pflegepersonalkosten. Diese werden seit letztem Jahr zu 100% ausgeglichen, d.h., voll von den Kassen übernommen.
Gesunken sind die Leistungsausgaben in relevanter Höhe nur im Krankengeldbereich.
Was sind die größten Kostentreiber?
Die größten Kostentreiber sind die teuren Leistungsgesetze, die in den letzten Jahren verabschiedet worden sind. Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) ist hier an einer der vordersten Stellen zu sehen. Aber auch die Vergütungen bei den Heilmittelerbringern sind (politisch gewollt) um bis zu 20% gestiegen.
Und nicht zuletzt gibt es im Bereich der Arzneimittelausgaben (ohne Impfstoffkosten) einen stetigen Ausgabenanstieg: Laut Information des GKV-Spitzenverband (vom 03.06.2022) betragen die Arzneimittelausgaben in Deutschland gemessen an den Gesundheitsgesamtausgaben 14,3%. Im OECD-Vergleich sind wir hier absolute Spitze und deutlich vor anderen Ländern wie Frankreich oder Österreich (jeweils 11,9%). Der Umsatz, den Unternehmen mit Arzneimitteln machen, hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt – von 25,3 Mrd. im Jahr 2006 auf 49,9 Euro.
Wenn die Arzneimittel ein so großer Kostentreiber sind, welche Möglichkeiten gibt es, die Kosten in diesem Bereich zu senken?
Der Bereich der Arzneimittel ist ein gutes Beispiel, um die Problematik deutlich zu machen. Denn natürlich gibt es Möglichkeiten, die Kosten zu senken. Ein großes Problem ist, dass die Pharmaunternehmen die Preise für die neu auf den Markt gekommenen Arzneimittel selbst festlegen können (freie Preisbildung). Ab dem 13. Monat nach Markteintritt erfolgen dann die Verhandlungen zwischen den Herstellern und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, um den endgültigen Preis festzulegen. Dies gilt für alle Arzneimittel, die die Zulassungsstudien erfolgreich durchlaufen haben. Sonderzulassungen für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen ohne freie Preisbildung oder regelmäßige Preisverhandlungen je nach Studienlage und Evidenz für Arzneimittel, die mit relativ kleinen Zulassungsstudien an den Markt gegangen sind, könnten hier Mittel der Wahl sein. Hinzu kommen Vorschläge, effizienter zu verordnen, zum Beispiel Packungsgrößen zu verkleinern.
Aber nichtsdestotrotz muss eines klar sein: Medizinischer Fortschritt, wie zum Beispiel der Einsatz individualisierter Krebstherapien oder Medikamente wie Zolgensma, werden die Kosten für Arzneimittel auch weiter in die Höhe treiben. Ebenso die (verständlichen) Bestrebungen, die Produktionsstätten wieder vermehrt nach Europa zu verlegen.
Gibt es noch weitere Bereiche, in denen Preissteigerungen zu erwarten sind?
Ja, zum Beispiel bei den oben genannten Pflegepersonalkosten. Diese werden steigen. Der demografische Wandel führt zu einem Mehrbedarf an Pflegekräften, die zudem einen Anspruch auf eine faire Bezahlung haben. Hier braucht es eine Lösung, wie wir mit den steigenden Kosten umgehen können, wenn wir sie nur zum Teil vermeiden können.
Welche Lösungen gibt es dann überhaupt?
Wir müssen uns den strukturellen Problemen unseres Gesundheitswesens stellen. Wenn auf der einen Seite in den nächsten Jahren Kostensteigerungen unvermeidbar sein werden, müssen wir auf der anderen Seite schauen, wie wir diese kompensieren können oder – wenn das nicht möglich ist – wie viel wir als Gesellschaft bereit sind, für ein Gesundheitswesen mit hoher Qualität zu zahlen.
In punkto Kompensation gibt es einen großen Hebel: Effizienzen heben. Unser Gesundheitswesen arbeitet extrem ineffizient. Das liegt vor allem an der fehlenden Vernetzung und Zusammenarbeit. Über- und Fehlversorgung entsteht, weil die einzelnen Akteure sich nicht absprechen und keine Kenntnis über Diagnosen und Behandlungen haben. Wir nutzen Daten und Wissen viel zu wenig, um ein nachhaltiges Gesundheitswesen zu planen. Wir verschwenden Geld, indem Arzneimittel nicht sachgerechnet verordnet und weggeschmissen werden. Wir verschwenden Geld, weil es für den Arzt im Zweifel attraktiver ist zu operieren als abzuwarten oder andere Behandlungsmethoden auszuprobieren.
Wenn wir unser Solidarsystem für künftige Generationen erhalten möchten, müssen wir nachhaltiger agieren. Das heißt: Neu verhandeln, wo wir unsere Ressourcen investieren möchten und innovative Lösungen für eine Systemanpassung entwickeln. Wir sind der Überzeugung: Ein nachhaltiges und effizientes System mit hoher Qualität(sorientierung) ist kein Widerspruch.
Und welche Möglichkeiten gibt es, um kurzfristig die Finanzlage zu verbessern?
Viele kurzfristige Möglichkeiten werden gerade diskutiert. Sinnvoll wäre es sicher, den Steuerzuschuss für die ALGII-Empfänger auf das notwendige Maß anzuheben. Aktuell ist die Situation so, dass die Kassen rund 10 Mrd. Euro weniger vom Bund bekommen, als sie für die Versorgung dieser Versichertengruppe benötigen. Auch die Reduzierung der Umsatzsteuer bei Arzneimitteln wäre ein großer Hebel. Wir in Deutschland sind eines der wenigen Länder, bei denen der volle Umsatzsteuersatz gezahlt wird. Auf der Einnahmenseite könnte eine gut gemachte Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze bei gleichzeitiger Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze überlegenswert sein,