"Wir brauchen mehr realistische und zielgruppengerechte Aufklärung"
Meinung: Ein Kommentar von Dr. Christian Ullrich, Bereichsleiter IT Betrieb Applikationen und Infrastruktur bei der SBK (03.02.2022)
Je mehr die Menschen mit dem Gesundheitswesen in Kontakt kommen, umso stärker haben sie das Gefühl, dass die Digitalisierung etwas für sie verbessern kann. Das ist das zentrale Ergebnis einer Umfrage zum Nutzen der Digitalisierung, die wir Ende 2021 durchgeführt haben. Und dieses Ergebnis leuchtet ein: Ein chronisch kranker Mensch, der mit mehreren dicken Aktenordnern von Praxis zu Praxis läuft, weiß, was für Vorteile eine funktionierende elektronische Patientenakte (ePA) bieten könnte. Das können Menschen, die sich nur gelegentlich untersuchen lassen, verständlicherweise weniger gut nachvollziehen.
Aus dieser zunächst wenig überraschenden Erkenntnis leiten sich für mich zwei Aspekte ab, an denen wir, die Akteure des Gesundheitswesens, jetzt verstärkt arbeiten müssen:
1. Ein Angebot steht erst dann, wenn der ganze Prozess funktioniert.
In erster Linie geht es um die Realisierung eines nutzerzentrierten digitalen Angebots. Dabei ist mir besonders wichtig, dass Prozesse von Anfang bis Ende gedacht werden müssen: Wir können nicht sagen, ein Angebot steht, wenn die App zum Download zur Verfügung steht. Ein Angebot steht erst dann, wenn der ganze Prozess funktioniert. Schauen wir zum Beispiel auf die ePA. Seit ziemlich genau einem Monat bieten wir Kassen jetzt die ePA 2.0 an. Die App bietet nun mehr Funktionen, die Versicherten einen Mehrwert bringen können, beispielsweise elektronische Dokumente wie den Mutterpass oder das U-Untersuchungsheft für Kinder. Aber in den Arztpraxen können ausgerechnet diese Funktionen, die auch die jüngeren und gesunden Versicherten ansprechen, nicht befüllt werden. Denn es fehlen funktionierende Anschlüsse der Praxen an die Telematikinfrastruktur und Updates bei den Praxisverwaltungssystemen. Solange wir uns solche „halbfertigen“, nicht zu Ende gedachten Prozesse leisten, wundert es mich nicht, dass weder Versicherte noch Ärztinnen und Ärzte Interesse an der ePA haben. So entstehen auch Ergebnisse wie die unserer Umfrage. Sie zeigen, dass die ePA im Arzt-Patientengespräch quasi keine Rolle spielt.
In unserer Pressemitteilung finden Sie alle Ergebnisse, Aussagen und Infografiken zur aktuellen Umfrage:
2. Aufklärung muss die Versicherten an dem Punkt abholen, an dem sie stehen.
Das führt mich zum zweiten Punkt: der Aufklärung der Versicherten. Wir werden niemanden überzeugen, etwas zu nutzen, was nicht richtig funktioniert oder was er nicht benötigt. Deshalb muss die Aufklärung die Versicherten an dem Punkt abholen, an dem sie stehen. Jemand, der nur ab und zu ein Rezept abholt, wenn er einen Infekt hat, braucht eine andere Informationstiefe als ein chronisch Kranker, der bei verschiedenen Ärztinnen und Ärzten dauerhaft in Behandlung ist. Eine Familie mit Kindern profitiert von anderen Anwendungen als eine Rentnerin oder ein Rentner. Wir müssen in der Aufklärung die Vielfalt in unserer Gesellschaft viel mehr berücksichtigen. Und eine realistische Erwartungshaltung schaffen, was aktuell möglich ist. Vielleicht reicht einem chronisch Kranken die ePA im jetzigen Funktionsumfang zumindest im ersten Schritt, um Behandlungsunterlagen griffbereit selbst zu digitalisieren. Aber für den Großteil der Menschen reicht das eben nicht. Auch das hat unsere Umfrage gezeigt.
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