Zweitmeinungsverfahren: Gut gedacht – noch nicht gut genug gemacht

Interview: Julia Zink über die Erweiterung der Zweitmeinungsrichtlinie durch den GBA (21.01.2021)

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Julia Zink

Seit Mitte Januar haben Patient*innen im Rahmen der Regelversorgung das Recht, vor der Erstimplantation einer Knieendoprothese eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Damit erweitert der GBA die Zweitmeinungsrichtlinie, die bereits für Operationen an Gaumen- und/oder Rachenmandeln, für Gebärmutterentfernungen sowie für arthroskopische Eingriffe am Schultergelenk gilt. Julia Zink, die SBK-Fachexpertin für neue Versorgungsangebote, die für die SBK auch das Thema Zweitmeinungen betreut, begrüßt die Erweiterung der Richtlinie grundsätzlich, übt aber auch Kritik, denn das Verfahren kommt bei den Patienten (noch) nicht an.

Frau Zink, was sagen Sie zur Erweiterung der Zweitmeinungsrichtlinie um die Knieendoprothese?

Grundsätzlich begrüße ich die Ausweitung der Indikationen für eine ärztliche Zweitmeinung auf Kniegelenkersatz sehr. Gerade im orthopädischen Bereich wird nach wie vor sehr viel operiert und nicht immer profitiert der Patient davon. Zweitmeinungen können helfen, die Zahl unnötiger Operationen zu verringern. Gleichzeitig unterstützen sie den Patienten, eine informierte und gute Entscheidung über die eigene Therapie zu treffen.

Leider zeigt die Praxis, dass die Inanspruchnahme der Möglichkeit für eine Zweitmeinung noch sehr gering ist und das Zweitmeinungsverfahren nicht bei den Patienten ankommt. Ich hoffe, dass sich das durch die Aufnahme weiterer Indikationen insbesondere im orthopädischen Bereich ändert und mehr Versicherte ihr Recht auf eine zweite Meinung nutzen.

Woran machen Sie fest, dass das Zweitmeinungsverfahren nicht bei den Patienten ankommt?

Unsere Daten zeigen, dass die Zweitmeinung nach der Zweitmeinungsrichtlinie des GBA nur selten von den Praxen abgerechnet wird. 2019 wurde die Zweitmeinung für Operationen an Gaumen- und/oder Rachenmandeln 96-mal unter den mehr als 1 Mio. SBK-Versicherten abgerechnet, für Gebärmutterentfernungen sogar nur 82-mal. Bei den arthroskopischen Eingriffen am Schultergelenk liegen für die Inanspruchnahme der Zweitmeinung noch keine validen Zahlen vor, da diese Indikation erst 2020 in die Richtlinie aufgenommen worden ist.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Patienten die Zweitmeinung nicht nutzen?

Ich sehe vor allem zwei Ursachen dafür, dass das Verfahren noch nicht in der breiten Versorgung angekommen ist:

Zum einen sind die Indikationen, für die die Zweitmeinungsrichtlinie gilt, an den Versicherten vorbei ausgewählt. Sie umfassen nicht die Krankheitsbilder, für die Patienten typischerweise eine zweite Meinung wünschen. Mandelentfernungen zum Beispiel werden meistens bei Kindern vorgenommen. Die Eltern möchten ihren häufig kranken Kindern möglichst schnell helfen und ihnen vor allem nicht viele Arztbesuche zumuten. Daher wünschen sie bei dieser vermeintlich kleinen Operation häufig keine zweite Meinung. Nach unserer Erfahrung ist der Bedarf vor größeren orthopädischen Eingriffen wie z. B. Rückenoperationen oder Hüftoperationen sehr viel höher. Von daher geht die Aufnahme der Knieprothese auf jeden Fall in die richtige Richtung.

Zum anderen ist das Angebot für eine ärztlichen Zweitmeinung unter Patienten nicht wirklich bekannt. Die Richtlinie sieht vor, dass der Arzt über das Recht zur zweiten Meinung aufklärt. Aber gerade der Arzt, der den Patienten operieren wird, hat kein Interesse daran, ihm zu einer zweiten Meinung zu raten.

Also, was muss sich verbessern?

Mit der für 2021 geplanten Ausweitung der Indikationen, die in die Zweitmeinungsrichtlinie aufgenommen werden, geht der GBA einen Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass der GBA sich dabei vor allem auf weitere planbare orthopädische Operationen fokussiert. Darüber hinaus braucht es zielgerichtete Informationen zum Recht auf Zweitmeinung an Patienten, die vor einem entsprechenden Eingriff stehen. Die Krankenkassen könnten hier eine wichtige Rolle als Informationsgeber spielen. Leider fehlt den Kassen bisher die Datengrundlage, um Patienten passgenau zu informieren. Hier müsste man im Interesse der Versicherten an Lösungen arbeiten.

Die hier zur Verfügung gestellten Inhalte dürfen, unter Angabe der Quelle SBK Siemens-Betriebskrankenkasse, veröffentlicht werden.

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